Neben der Neukonzeption meiner Seminare habe ich mich in dieser Woche an etwas „Größeres“ gewagt: Ich habe versucht, LdL und die Neuronenmetapher in drei Vorlesungen mit 50-120 Studierenden umzusetzen.
Das klappt nicht? Diese Argumentation habe ich schon oft gehört: In Vorlesungen kann man gar nicht anders als Frontalunterricht machen, da die große Teilnehmerzahl und die Raumstruktur dies verhindern. Also müssen wir da durch und „beteachen“ (sprich: „betietschen“).
Trotzdem bleibt aber eines unbefriedigend: Die Studierenden klagen immer wieder, dass Vorlesungen zu langweilig sind, der Stoff schlecht präsentiert wird, sie kaum Möglichkeit zu fragen haben, es keine Denkpausen gibt und sie sich nicht richtig aktiv beteiligen können. Außerdem ist es wirklich quatsch, wenn ein Dozent sein Skript an die Tafel pinselt, das die Teilnehmer sowieso vor sich liegen haben (also „Vorlesung“ im wörtlichen Sinne). Und wenn sie es nicht vor sich liegen haben, dann könnten sie es vor sich liegen haben, nämlich indem der Dozent das Skript z.B. zum Download zur Verfügung stellt. Wir haben doch erwachsene Menschen vor uns sitzen, die selbst lesen können!
Ich habe am Donnerstag in drei Vorlesungen an der PH Heidelberg mal etwas ganz anderes ausprobiert. Dabei handelt es sich um die Vorlesungen Elementare Funktionen (ca. 120 Teilnehmer), Didaktik der anwendungsbezogenen Mathematik (ca. 50 Teilnehmer) und Anwendungsbezogene Mathematik (ca. 40 Teilnehmer). Gleich die erste Vorlesung (Elementare Funktionen) war die größte von allen dreien. Setting: Klassischer Hörsaal. Daher war es besonders spannend, ob ich hier die Studierenden zum „neuronenartigen Verhalten“ animieren konnte.
Ich bin folgendermaßen vorgegangen: Nach der Begrüßung habe ich zwei Kringel (MindMap-Mitten) an die Tafel gemalt, in denen stand: „Was ich an traditionellen Vorlesungen schlecht finde“ und „Was WIR besser machen können“. Dann bin ich kommentarlos ein Stück im Saal nach oben gegangen, habe mich zwischen die Studenten gesetzt und gewartet. Ein wenig Gelächter. Stille. Nichts passierte. Nach einer gewissen Zeit bin ich (wieder kommentarlos) aufgestanden, demonstrativ nach vorne gegangen, habe mir die Kreide geschnappt, habe einen Punkt zur ersten MindMap hinzugefügt („95% Redeanteil Dozent“) und habe mich wieder kommentarlos hingesetzt und gewartet. Es hat ein bisschen gedauert, aber schließlich hat sich eine Studentin getraut nach vorne zu gehen und auch etwas an die Tafel zu schreiben: „kaum Möglichkeit für Fragen“. Zwei, drei weitere sind gefolgt. Langsam aber sicher ist die Sache ins Rollen gekommen. Schließlich haben auch Studenten Dinge nach vorne gerufen, die diejenigen, die vorne standen, mit an die Tafel geschrieben haben. Diese Phase hatte die folgende Bedeutung: Die Studierenden sollten aus ihrer Passivität herauskommen; symbolisiert wurde dies durch das Aufstehen, Nachvornegehen und An-die-Tafel-Schreiben. Schließlich hatten wir das folgende Bild vor uns:
Die Studenten hatten also selbst Ideen entwickelt, was besser gemacht werden könnte: „sich einbringen“, „Fragen stellen / sich Zeit nehmen“, „abwechslungsreich“, …; interessant fand ich auch den negativen Punkt „bloß gestellt werden“: Studierende beteiligen sich oft nicht aktiv an Vorlesungen, weil sie Angst haben, einen Fehler zu machen oder etwas „Dummes“ zu sagen. Und genau DAS schreit gerade zu danach, LdL und die Neuronenmetapher in Vorlesungen einmal auszuprobieren.
Anschließend habe ich das Erich-Hammer-Video gezeigt und gesagt, dass ich mir so in etwa die Interaktion in der Vorlesung vorstelle:
Nach einer kurzen Diskussion über LdL haben wir gleich begonnen: Ich habe den Studierenden den Auftrag gegeben, ein Brainstorming zu „Funktionen“ zu machen: Sie sollten alles aufschreiben, was ihnen zum Begriff „Funktion“ einfällt (in Partnerarbeit, 5-10 Minuten). Anschließend haben wir begonnen, ihre Punkte an der Tafel zu sammeln. Ich habe zwei, drei von Studierenden genannte Punkte selbst aufgeschrieben, dann aber gleich die Kreide an eine Studentin weitergeben („Ach, komm, machen Sie mal weiter hier!“). Die Aufgabe der Person an der Tafel war dabei (und das ist das Wesentliche!), nicht selbst eigene Punkte an die Tafel zu schreiben, sondern die Diskussion zu leiten und die Punkte aufzunehmen, die aus dem Plenum kommen. Wer nicht mehr vorne stehen will, gibt die Kreide weiter.
So. Und dann ist etwas passiert, was ich so niemals vorher geahnt hätte: Die Studenten haben angefangen „wie Neuronen zu feuern“ (ich liebe dieses Bild!): „Es gibt Scheitelpunkte bei Funkionen!“ – Studentin schreibt „Scheitelpunkt“ an die Tafel – „Es gibt auch Extrempunkte“ – „Ok, ich schreib das hier unter Scheitelpunkt“ – „Sind eigentlich alle Extrempunkte Scheitelpunkte?“ – (intensive Diskussion, aber ohne Ergebnis) – „Es gibt auch noch Wendepunkte“ – „Was sind jetzt eigentlich Scheitelpunkte“ – „Nennt doch mal einen Extrempunkt, der kein Scheitelpunkt ist“ – „Was ist eigentlich mit Sattelpunkten?“ – „Sattelpunkte sind Wendepunkte“ – „Wie sieht denn ein Sattelpunkt aus?“ – (Studentin kommt nach vorne und zeichnet einen an, Vergleich mit Wendepunkt) – „Schreib nochmal Monotonie auf“ – „Stetigkeit“ – „Was ist Stetigkeit?“ – „Wenn man die Kurve zeichnen kann, ohne den Stift abzusetzen“ – „Muss eine Funktion stetig sein, damit sie monoton sein kann?“ – (Diskussion ohne Ergebnis) – „Schreib noch Differenzierbarkeit auf“ usw. usw. usw.
In dieser Phase ist eines ganz deutlich geworden: Die Studenten kennen jede Menge Begriffe. Es ist aber auch klar geworden, was sie alles nicht wissen. In einer klassischen Vorlesung „Definition 1.1 – Funktion – Eine Funktion ist eine eindeutige Zuordnung…“ hätten sie sofort das Gehirn ausgeschaltet. Hier ist das Gegenteil passiert: Sie haben intensiv um die Bedeutung bestimmter Begriffe gerungen. Ich selbst habe mich weitestgehend zurück gehalten. Das war wichtig, damit die Studenten unter sich diskutieren und sich somit auch getrauen, Fragen zu stellen. Am Ende waren noch einige Fragen offen – dies habe ich als Rechercheaufgabe für die nächste Woche aufgegeben („Wer schlägt z.B. in Wikipedia die Bedeutung der Begriffe Extrempunkt, Scheitelpunkt, Wendepunkt nach und schreibt sie in unser Forum hinein?“).
In der zweiten Vorlesung („Didaktik der anwendungsbezogenen Mathematik“) hatte ich den gleichen Einstieg gewählt: Mindmaps, dann LdL-Video, kurze Diskussion. Geklappt hats genauso gut: Erst Anlaufschwierigkeiten, dann schließlich war die Tafel voll Kritikpunkten und guten Ideen. Anschließend sollten die Studenten (wieder zunächst in Partnerarbeit) folgende Fermi-Aufgabe lösen: Wie viele Personen müssen in ein Schwimmbad steigen, damit der Wasserspiegel um 10 cm steigt? Charakteristisch an Fermi-Aufgaben ist, dass Angaben fehlen und das man schätzen muss. Anschließend wurden die Überlegungen an der Tafel zusammengetragen – natürlich wieder unter der Diskussionsleitung eines Studenten. Auch hier war ich wieder verblüfft, wie aktiv gefragt wurde, wenn ein Student vorne steht (und nicht der Dozent). „Wie viel Wasser verdrängt eigentlich ein Mensch?“ – „Tauchen die Menschen ganz unter, oder stehen sie nur bis zum Bauchnabel im Wasser?“ – „Ich hab mal angenommen, so ein Mensch ist ein Quader.“ usw. Das sind genau die Fragen, die beim Bearbeiten einer solchen Aufgabe gestellt werden sollten! Geendet hat das Ganze damit, dass sich ein Student vorne auf einem Tisch zu einem Quader zusammengekauert hat, und zwei Studenten haben ihn mit Geodreiecken ausgemessen. Ist das nicht geil?
In der dritten Vorlesungen saßen bereits viele Teilnehmer, die schon in den ersten beiden Vorlesungen dabei waren. Ich habe daher auf die Sammlung an der Tafel verzichtet (und u.a. auch deswegen, weil ich versehentlich zu spät gekommen war. ;-)). Hier waren die anschließenden Diskussionen tatsächlich etwas schleppender als in den ersten beiden Vorlesungen. Ich glaube, insbesondere das Zeigen des Erich-Hammer-Videos schafft gleich die passende Atmosphäre, bzw. das Zeigen des Videos scheint ganz wesentlich zu sein für den Einstieg. Aber in den nächsten Sitzungen kriegen wir das auch noch hin. 🙂
Wie funktioniert das jetzt eigentlich mit dem inhaltlichen Input? Ich habe mir folgendes überlegt: Die Studenten lesen in Vorbereitung auf die nächste Sitzung einen gewissen Bereich des Skripts. Zu Beginn der Vorlesung wird ein Student die Diskussion dazu führen: Was war unklar? Welche Fragen sind aufgekommen? In dieser Phase werden die Studenten gemeinsam diskutieren und die Fragen klären. Anschließend werden die Studenten gemeinsam an weiteren Beispielen / Anwendungen / Aufgaben die Inhalte vertiefen und wiederum gemeinsam Probleme aus dem Weg räumen. Ganz wesentlich an dem Konzept ist natürlich die aktive Vorbereitung und Mitarbeit der Studierenden. Ich bin gespannt, ob es weiterhin klappen wird, und welche Probleme auftreten werden. Ich werde in jedem Fall hier weiter berichten und würde mich auch über eure Fragen / Anregungen / Ideen freuen.