Ich habe in den letzten 15 Jahren jeden Tag in meine E-Mail-Postfächer geschaut und habe neu eingegangene oder noch liegen gebliebene E-Mails bearbeitet. Von Studentinnen und Studenten, von Kolleginnen und Kollegen, von vielen mit mir in Kontakt stehenden Menschen. Also: Es gab keinen Tag in den letzten 15 Jahren, an dem ich nicht in meine Mails geschaut habe. Auch an Wochenenden, im Urlaub, rund um die Uhr. Getrieben war ich immer einerseits von Neugier (was gibt es Neues?), andererseits von Verantwortungsbewusstsein (bin ich nicht verpflichtet, schnell zu reagieren?).
Darüber hinaus war ich in den letzten Jahren natürlich immer auch auf Facebook, Twitter usw. permanent aktiv (mit Ausnahme der Auszeit, die ich mir damals genommen hatte). Sowohl Mails als auch soziale Medien nutze ich beruflich und privat. Beide Welten fühlen sich aber anders an:
- Mails sind eher beruflich, und damit meine ich: dienstlich. Das heißt, sie betreffen eher organisatorische oder administrative Fragen. Dinge, die gemacht werden müssen. Aufträge, Probleme und Fragen, die an mich herangetragen werden.
- Soziale Medien wie Twitter und Facebook nutze ich zum Teil privat, zum Teil beruflich. Beruflich bedeutet hier eher inhaltlich, als Forschung und Lehre betreffend. Ich chatte mit Freunden, ich stöbere in Links, die über Twitter an mich herangetragen werden, oder ich like interessante Beiträge im Web. Alles mehr oder weniger „freiwillig“.
Mails sind also eher „ich muss“, soziale Medien eher „ich will“. Wobei, genau genommen kommen auch ab und zu mal über Twitter und Facebook öffentliche, aber an mich adressierte Nachrichten rein wie beispielsweise
@dunkelmunkel Was denkst du zu der Seite? http://www.irgendeinlink.de
wodurch ich mich tendenziell genötigt fühle, mir etwas anzusehen, obwohl ich eigentlich ganz andere Dinge machen will. Das ist aber eher die Seltenheit, sodass sich soziale Medien für mich eher selbstbestimmt, Mails eher fremdbestimmt anfühlen.
Dieses Jahr war bislang das anstrengendste Jahr, das ich jemals hatte. (Ich habe das Gefühl, dass ich das jedes Jahr sage, aber diesmal ist es wirklich so.) Ich habe also dringend eine Auszeit gebraucht. Unsere Flitterwochen auf Lanzarote kamen da genau zum richtigen Zeitpunkt. Endlich Urlaub!
Bereits am ersten Tag hat es sich für mich falsch angefühlt, in meine Mails zu schauen. Früher war klar: „Hey, ich bin zwar im Urlaub, aber ich schaue regelmäßig in meine Mails. Also, wenn was ist, ich krieg’s mit.“ Diesmal hatte ich zwar auch den inneren Drang (Zwang? Sucht?), in meine Mails zu schauen, habe es aber am ersten Urlaubstag nicht gemacht. Und abends überlegte ich mir, dass es doch echt verwegen wäre, wenn ich die ganzen 15 Tage nicht ein einziges Mal in mein Postfach schauen würde. Das halte ich doch nie durch!
Ich hab’s gemacht. Es war eine recht spontane Entscheidung, und ich musste sie vor mir selbst rechtfertigen. Mir ist ein guter Trick eingefallen, mit dem ich mich selbst überzeugen konnte, dass es mal total interessant ist, das zu tun. Ich musste es mir gegenüber als Experiment deklarieren. Mal schauen, was passiert, wenn ich 15 Tage lang keine Mails lese. Verpasse ich irgend etwas wichtiges? Vielleicht irgend etwas existenziell wichtiges? Wie reagieren Studentinnen und Studenten, Kolleginnen und Kollegen? Ich hatte ja immerhin auch keine automatische Antwort mit einer Warnung eingestellt, dass ich gerade keine Mails lese, und dass man sich in dringenden Fällen an X oder Y wenden muss. Zunächst fand ich das ein bisschen unfair, dann habe ich mir aber überlegt, dass es das Experiment noch experimentieriger macht: Was passiert, wenn man zwei Wochen lang gar nicht reagiert? Und: Es ist ja immerhin Urlaubszeit, also müssten die Menschen ja tendenziell auch damit rechnen, dass man nicht in Mails guckt. Kann schon nicht schlimm sein.
Jetzt sind die 15 Tage vorbei, und hier ist das Ergebnis meines Experiments: Ich habe (auf allen meinen Mailaccounts) in diese Zeitraum insgesamt 732 E-Mails erhalten. Natürlich waren darunter jede Menge Mails wie Spam, tägliche Serverstatistiken, Newsletter, usw. Insgesamt waren es 495 automatisch erzeugte Mails und Massenmails (das sind ca. 68%). Zurück blieben 237 (ca. 32%) ernsthaft zu behandelnder Mails. Darunter befanden sich jedoch zahlreiche Mails, die ich einfach nur zur Kenntnis nehmen musste (also: lesen musste), bei denen aber keine Reaktion von mir erwartet wurde. Insgesamt handelte es sich um 163 (ca. 22%) relevante Mails ohne Antwortnotwendigkeit. Übrig blieben also nur 74 Mails (ca. 10%), bei denen eine Antwort von mir erwartet wurde. Bei den allermeisten dieser Mails war diese Antwort aber nicht dringlich. Das heißt: Es ist bei fast allen dieser Mails kein Problem gewesen, dass ich sie erst nach meinem Urlaub gelesen und beantwortet habe. Nur 5 dringliche Mails (0,7%) waren darunter, bei denen die Antwort innerhalb meiner Urlaubszeit notwendig gewesen wäre: eine Mail, bei der ich um Erlaubnis zur Verwendung eines Bildes befragt wurde (nicht tragisch), eine Anfrage wegen eines Vortrags (nicht tragisch), eine Mail wegen einer Autorenbeschreibung zu einem Artikel (nicht tragisch). Zwei Mails waren wichtig (eine Mahnung wegen einer Rechnung, eine organisatorische Angelegenheit wegen einer Tagung), und witzigerweise haben mich genau diese beiden Anliegen per Telefon im Urlaub erreicht, sodass ich sie vom Urlaub aus kurz regeln konnte (und selbst wenn nicht, es wäre nicht tragisch gewesen).
Alles in allem also: Es ist kein Problem, wenn ich zwei Wochen lang meine Mails nicht lese. Es ist einfach nichts passiert. Aber was soll auch passieren? Ich arbeite ja nicht in einem Krankenhaus, in dem es um Leben und Tod geht. Letztenendes ist alles nicht tragisch, jedenfalls nicht so tragisch, dass man sich die Freizeit dadurch belasten lassen muss. Was habe ich dadurch gewonnen: Extreme Erholung durch komplette Freiheit von der Fremdbestimmung. Und: Getwittert und gefacebooked habe ich im Urlaub natürlich schon, und das hat sich auch gut angefühlt.
Gelernt habe ich auch, dass ich Aktitiväten, die ich mich nicht so recht durchzuführen getraue, als Experiment bezeichnen muss. Und schon ist es keine bedenkliche Aktivität, sondern eine extrem spannende! Geiler Psycho-Trick, finde ich. Das nächste Experiment steht schon an: Ich werde ab nächster Woche versuchen, am Wochenende keine Mails zu lesen. Nichts ist so dringend, dass es nicht bis Montag warten kann. Garantiert.
Welche Experimente werdet ihr machen?