Vor ca. einem Jahr hat das erste EduCamp in Ilmenau stattgefunden. Am nächsten Wochenende steht das nächste EduCamp, ebenfalls in Ilmenau, an. In der Zwischenzeit hat sich unglaublich viel getan – insbesondere in meiner eigenen Auffassung vom Lernen. Neuronenmetapher, Öffentliche Wissenschaft, Dynamik des Netzes, Maschendraht-Community, LdL – das alles sind Konzepte, die mich stark geprägt haben. An dieser Stelle möchte ich einmal ganz ausdrücklich Jean-Pol Martin danken, der einen ganz großen Teil dazu beigesteuert hat. Ebenfalls möchte ich meinem Informatikdidaktik-Seminar vom letzten Semester danken, die ebenfalls ganz wesentlich zu meiner eigenen Entwicklung beigetragen haben. Und natürlich: Lutz Berger, der geniale Inspirator und mit großer Ausdauer gesegnete Begleiter.
Gravierend geändert hat sich für mich meine eigene Auffassung von der Gestaltung von Lehrveranstaltungen. Mittlerweile verdichtet sich für mich ein Bild vom Lernen in Seminaren (d.h. Lehrveranstaltungen mit kleiner Teilnehmerzahl), das ich in einem ersten Versuch in drei Stufen darstellen möchte. Dabei kennzeichnen die Stufen auch die Entwicklung in meinen eigenen Seminaren. Vorausschicken möchte ich, dass ich diese Stufen immer mit Blick auf das Lehramtsstudium betrachte – inwieweit das auf andere Studiengänge übertragbar ist, könnt ihr ja selbst entscheiden.
Stufe 0: Theoretische Vortragsseminare. Studierende bereiten alleine oder in Zweierteams einen Vortrag vor, und zwar in der Regel anhand eines Texts, den sie zuvor vom Dozenten erhalten haben. Dieser Vortrag wird in einer Sitzung gehalten (und bei größerer Teilnehmerzahl wird die Sitzung für zwei Vorträge halbiert). Die Teilnehmer, die gerade keinen Vortrag halten, hören zu und dürfen (bei genügend Zeit) am Ende Frage stellen.
Diese Form des Seminars ist für mich mittlerweile inakzeptabel geworden. Wir erzählen Studierenden in unseren Didaktik-Veranstaltungen, dass der Wechsel von Sozialformen, Methoden und Medien im Unterricht wichtig ist. Dann können wir sie doch in unseren Seminaren nicht reinen Frontalunterricht halten lassen. Etwas inkonsequenteres als das ist nur schwer zu finden. Daher auch „Stufe 0“: Das ist der traditionelle „böse“ Weg. Fragt man Studierende, können sie einem in 15 Minuten erzählen, was man daran alles besser machen könnte – und erfinden dabei etwas, was Stufe 1 ähnelt.
Stufe 1: LdL-Seminare erster Stufe. In diesen Seminaren halten die Studierenden nicht Vorträge, sondern sie bereiten Unterricht vor. D.h. sie planen die Seminarsitzung unter Berücksichtigung verschiedener Sozialformen und sie setzen unterschiedliche Methoden ein. Sie gestalten z.B. Aufgaben für die anderen Teilnehmer, die in Gruppen bearbeitet werden müssen. Anschließend leiten sie die Diskussion zu den Arbeitsergebnissen. Wesentlicher Unterschied zu Stufe 0 ist die Aktivierung aller Teilnehmenden. Und kognitive Aktivität ist bekanntermaßen ein ganz guter Prädiktor für Lernerfolg.
Wichtig für diese Stufe ist die Neuronenmetapher: Die Teilnehmer werden als Neuronen betrachtet, die miteinander interagieren. Die gesamte Seminargruppe bildet ein „Gehirn“. Es muss eine Atmosphäre herrschen, in der Studierende einfach ihre Ideen, Anregungen, Fragen äußern können, ohne dass sie Angst haben müssen, dass eine fehlerhafte Äußerung zu einem Nachteil führen könnte. Der Dozent ist in diesem Kontext im wahrsten Sinne des Wortes ein Coach – er unterstützt und begleitet die Studierenden durch das Semester hindurch bei der Vorbereitung und Durchführung der einzelnen Einheiten.
Stufe 2: LdL-Seminare zweiter Stufe. Andere mögliche Namen für diese Form von Seminaren sind: öffentliche Projektseminare, Weltverbesserungsseminare oder Seminare und der Rest der Welt. Auf dieser Stufe wird die Begrenztheit der Bildungsinstitution aufgegeben. Studierende führen „Weltverbesserungsprojekte“ mit Menschen außerhalb der Institution durch (beispielsweise in Zweier- oder Dreierteams jeweils mit einem Projektpartner von außen). Die Inhalte, die auf Stufe 0 noch vorgetragen wurden, erarbeiten sich die Studierenden im Kontext der Projekte – weil sie ohne dieses Wissen die Projekte nicht erfolgreich durchführen können.
Das mag zwar unsystematischer und unsicherer wirken als auf Stufe 0. Das ist vermutlich auch so. Vergessen darf man dabei aber nicht, dass Studenten praktisch nichts aus Seminaren der Stufe 0 mitnehmen. Dafür sehen sie in diesem Kontext (Stufe 2) erstmals einen echten Sinn, warum diese Inhalte wichtig sind. Neben der Sinnhaftigkeit unterscheidet sich Stufe 2 von Stufe 1 durch die höhere Situativität: Studierende lernen in authentischen Kontexten.
Weshalb heißen diese Seminare „LdL-Seminare zweiter Stufe“? Die „LdL-Grundatmosphäre“ gilt immer noch: Die Gesamtgruppe wird als Gehirn betrachtet, das lernt; jetzt allerdings mit dem Unterschied, dass dieses Gehirn Verbindungen nach außen hat (über die Vernetzung mit den Menschen außerhalb des Seminars). Hier spielen Web-2.0-Werkzeuge eine wesentliche Rolle. Hierüber können Planungsaktivitäten und Diskurse mit den Projektpartnern durchgeführt werden. Die offline-Seminarsitzungen sind dafür da, dass die einzelnen Teams sich über ihre Planung austauschen und das weitere Vorgehen diskutieren. Evtl. ist auch mal ein inhaltlicher Input notwendig, den ein Studierender (oder auch mal der Dozent) vorbereiten kann. Die Diskussionen werden weiterhin von Studierenden geleitet. Es sind also LdL-Sitzungen, die dem Fortschreiten der Projekte dienen.
Beispiel zum Thema „Wikis“. Das Seminar „Computereinsatz in der Schule“, das im nächsten Semester wieder stattfinden wird, hat verschiedene Computer- und Internetanwendungen zum Inhalt, die zum Lernen und Lehren eingesetzt werden können. Innerhalb dieses Seminars sind „Wikis“ ein Thema. Wie würde nun die Umsetzung dieses Themas auf den einzelnen Stufen aussehen?
- Stufe 0: Eine Studentin bzw. ein Student bereitet das Thema vor (anhand eines Texts und anhand einiger Webseiten) und stellt das Ganze in einer Seminarsitzung vor: Geschichte der Wikis (inkl. Geschichte des Webs), Eigenschaften von Wikis, Benutzung von Wikis, Vor- und Nachteile von Wikis, Wikis in der Lehre, …
- Stufe 1: Zwei Studierende bereiten eine Seminarsitzung zum Thema „Wikis“ vor. Zu Beginn geben sie eine kurze Einführung in Wikis. Anschließend erteilen sie den Teilnehmern eine Aufgabe, die sie unter Nutzung von Wikis lösen müssen. Zum Schluss werden die Erfahrungen gemeinsam diskutiert. Die „Studentenlehrer“ moderieren die Diskussion. Die Studierenden bekommen hier zwar nicht so viel inhaltlichen Input wie auf Stufe 0, dafür sammeln sie selbst Erfahrungen im Umgang mit Wikis. Die Studentenlehrer können weitere Infos (beispielsweise zur Geschichte von Wikis) als Links bereitsstellen, falls sich noch jemand dafür interessiert. Nachteil auf dieser Stufe ist (jetzt im Hinblick auf das Lehramtsstudium), dass Wikis immer noch losgelöst von konkreten Schulerfahrungen behandelt werden. Man überlegt sich hier, welche Möglichkeiten und Grenzen es „theoretisch“ beim Einsatz von Wikis in der Schule gibt. Dieses Problem behebt – wer hätte es gedacht – Stufe 2.
- Stufe 2: Die Studierenden führen in Zweier- bzw. Dreierteams verschiedene Projekte mit Menschen außerhalb des Seminars – vornehmlich Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler – durch. Eines dieser Teams hat den Einsatz von Wikis zum Thema. Sie coachen eine Lehrerin / einen Lehrer dabei, wie sie/er Wikis im Unterricht einsetzt bzw. halten gemeinsam mit ihr/ihm den Unterricht. Zu diesem Zweck müssen sich die Studierenden natürlich mit Wikis auskennen, d.h. sie müssen sich in Wikis einarbeiten und gemeinsam mit der Lehrperson ein Unterrichtskonzept entwickeln und durchführen. Hierdurch entsteht eine „Win-Win-Win“-Situation: Die Studierenden beschäftigen sich mit Seminarinhalt und dabei sogar auf eine richtig sinnvolle Weise. Die Lehrerin bzw. der Lehrer lernt Wikis und deren unterrichtlichen Einsatz kennen und spart sich dabei die Einarbeitungszeit (Lehrer haben i.d.R. wenig Zeit zur Einarbeitung in neue Tools, und oft fehlt auch die Vorerfahrung). Und: Die Schülerinnen und Schüler lernen, wie man mit Wikis umgeht. Das Ganze wird dann auch noch zur „Win-Win-Win-Win“-Situation, wenn es sich bei dem Wiki um ein Community-Projekt (wie beispielsweise ein Stadtwiki) handelt und dabei auch die Community noch profitiert. Wer will da noch Seminare auf Stufe 0 halten?
Selbstverständlich haben auch Seminare auf Stufe 2 Nachteile, die sich aber als Pseudo-Nachteile herausstellen:
- Seminare auf Stufe 2 sind mit Sicherheit für den Dozenten und für die Studierenden arbeitsaufwändiger als Seminare auf Stufe 0. Dafür lernen aber natürlich auch alle etwas, und es macht mehr Spaß, es ist aufregender und man sieht einen Sinn in dem, was man tut.
- Seminare auf Stufe 2 sind „gefährlicher“ und risikoreicher: Es kann passieren, dass ein Projekt in die Hose geht. Aber auch das ist viel besser als man denkt: Die Erfahrungen können gemeinsam reflektiert werden. Die Studierenden, der Projektpartner und der Dozent haben etwas dabei gelernt – und dafür sind ja Seminare bekanntlich da.
Mein Informatikdidaktik-Seminar im letzten Semester ist vermutlich irgendwo zwischen Stufe 1 und 2 anzusiedeln. Im nächsten Semester versuche ich mich erstmals an einem Seminar komplett auf Stufe 2. Zudem werde ich versuchen, Vorlesungen im LdL-Stil zu halten – mal sehen, wie das klappen wird. Ich werde natürlich über meine Erfahrungen hier berichten.
Wie immer interessieren mich auch eure Meinungen zu diesem Beitrag – bitte kommentiert!
Jetzt geht’s aber erst mal aufs EduCamp – gemeinsam mit (fast) dem ganzen Seminar vom letzten Semester. Maschendraht-Community goes EduCamp! 🙂