Fazit: Im Mathe-MOOC, den wir auch in unseren eigenen Vorlesungen einsetzen, verfolgen wir ein Konzept, in dem wir weniger „fertige Mathematik“ präsentieren, sondern in dem Studierende sich selbstständig anhand von Aufgaben und Impulsen mathematische Konzepte erarbeiten (basierend vor allem auf den didaktischen Herangehensweisen von Michael Gieding und auch auf der Diskussion mit Peter Baireuther). Das bedeutet: Oftmals gibt es zu Aufgaben keine „Musterlösung“, und es wäre kontraproduktiv, solche bereit zu stellen. Die Mail einer Studentin von heute hat mich aber zum Grübeln gebracht: Ich glaube, ich verstehe tatsächlich zu wenig von Ängsten und Nöten von Erstsemester-Studierenden. Vermutlich bin ich manchmal schon „zu weit weg“. Ich muss versuchen, mich mehr in die Studierenden hineinzudenken, und ich muss mich intensiver erinnern, wie es bei mir damals war. Das Konzept der Veranstaltung (MOOC + Flipped Classroom + teilweises selbstentdeckendes Lernen) verlangt wesentlich mehr Sensibilität für die Probleme mancher Studierender von mir.
Mit Erlaubnis der Studentin drucke ich hier den Mailwechsel ab:
Sehr geehrter Herr Spannagel,
Ich sitze normalerweise in Ihrer Vorlesung „mathematische Grundlagen 1“ und bin am verzweifeln. Ich habe Mathe immer gemocht und meine Lehrer haben mich immer für meine schnelle Auffassungsgabe gelobt. Ich habe auch gerne geknobelt und lange an Aufgaben gesessen und rumprobiert – aber momentan bin ich wirklich am Ende meiner Kräfte. Diese ganze „ich vergesse Mathe“ und wende es dann trotzdem an, finde ich einfach nicht logisch. Ich bin kurz davor alles hinzuschmeißen und habe auch soeben versucht sie telefonisch zu erreichen. Ich brauche einfach in gewissen Dingen klare Anweisungen.
Ich habe ehrlich sehr große Probleme mit dieser Arbeitsweise und leider sind mir auch meine Kommilitonen keine große Hilfe. Mir persönlich würden Lösungen der Aufgaben sehr weiterhelfen – und zwar nicht welche die irgendwer ins Internet postet und unter die drei Tage später mal jemand anders was schreibt, sonder ein Erwartungshorizont Ihrerseits. Ich würde Sie wirklich von ganzem Herzen bitten, uns eine Lösung der von Ihnen gegebenen Aufgaben der letzten und dieser Woche zu geben. Denn etwas derartiges findet man im Internet kaum und ich weiß wirklich nicht, was Sie eigentlich von mir hören wollen. Ich bin nicht unbedingt der belastbarste Mensch, das weiß ich auch, aber ich bemühe mich, die mir gestellten Aufgaben zu lösen. Und nun sitze ich hier und weiß einfach überhaupt nicht, was ich zu den Aufgaben schreiben soll. Denn im Kopf ist das alles klar und ich kann nicht alles vergessen, was ich weiß. Aber ich könnte vielleicht lernen, nachzuvollziehen, was man an bestimmten Stellen noch nicht weiß, wenn ich eine Lösung zum nachvollziehen hätte. Und diese dann, wenn ich auch Zeit und Raum habe, mich damit zu beschäftigen. Oder wenigstens rauszufinden ob sie stimmt – ob mit Taschenrechner oder durch Vergleiche. Aber diese Unwissenheit ob ich völlig auf dem Holzweg bin oder nicht ist echt schwer auszuhalten.
Ich bin immer noch völlig durch den Wind, weil mich das ehrlich ziemlich mitnimmt. Wahrscheinlich würde ich, wenn ich noch länger nachdenken würde, diese Email gar nicht abschicken. Aber ich weiß auch, dass ich mit dieser Art Aufgaben ohne Erwartungshorizont oder äquivalente Beispielaufgabe nicht auf Dauer klar komme und bitte Sie deshalb ganz herzlich, mein Anliegen zu berücksichtigen und auch darauf einzugehen.
Und hier meine Antwort:
Liebe XY,
vielen Dank für deine Offenheit. Ich kann mir vorstellen, dass manche Aufgaben, die ich stelle, dich verunsichern (z.B. die smarten Quadrate, manche Aufgaben zum „Wundern, Staunen und beweisen“ usw.), weil es keine richtige Lösung gibt, mit der man vergleichen kann.
Ich finde es schade, dass der Schulunterricht dir (und vielen anderen) den Eindruck vermittelt hat, in der Mathematik gibt es immer eine richtige Lösung, gegen die man eigene Ideen vergleichen kann. Es gibt so viele interessante Knobelsituationen, in denen es einfach kein „richtig“ oder „falsch“ gibt. Ich möchte gerade nicht den „Fehler“ fortsetzen, „Musterlösungen“ für alle Aufgaben auszugeben, gegen die man dann seine Lösung vergleicht. Für manche mache ich das – nämlich für diejenigen, bei denen das geht und sinnvoll ist (siehe die Videos, die ich jetzt in der aktuellen Unit online gestellt habe).
„Frische“ Lehrerinnen und Lehrer wiederholen oft den Unterricht so, wie sie ihn selbst erfahren haben, und das ist nicht immer gut. Ich würde euch gerne zum Umdenken bzgl. Mathematiklernen bringen, und Umdenken hat manchmal auch erst mal mit etwas Verunsicherung zu tun – Verunsicherung, weil man mit Dingen konfrontiert wird, mit denen man bislang so nicht in Berührung gekommen ist. In der Psychologie spricht man dabei auch von „kognitiven Konflikten“, die zu einem neuen Verständnis führen, wenn sich durchlebt und aufgelöst worden sind. Das fühlt sich manchmal unwohl an, und in deinem Fall hat es vielleicht auch in eine Krise geführt. Das tut mir leid, so „heftig“ möchte ich euch natürlich nicht verunsichern, sondern „nur ein bisschen“ – mit einer positiven Intention. Vielleicht kannst du dabei auch deine persönliche „Entwicklungsaufgabe“ sehen, gelassener in solchen Situationen zu werden. Ein Stück Gelassenheit ist wichtig, nicht nur in der Mathematik, sondern auch im Lehrberuf, ansonsten besteht die Gefahr, dass du dich selbst zu sehr unter Druck setzt, obwohl es die Situation gar nicht so sehr erfordert.
Ich werde immer wieder Beispielklausuraufgaben einstellen, Beispiellösungen geben, und deutlich machen, an welchen Stellen Aufgaben wirklich „nur zum Entdecken“ sind und „nicht zum Prüfen“. Ich bin mir sicher, du wirst am Ende wissen, wie du dich auf die Klausur vorbereiten musst. Wichtig ist, jetzt nicht aufzugeben, sondern weiterzumachen, dich durchzubeißen, manchmal vielleicht irritiert zu sein, aber letztenendes klarer zu sehen. Das klappt jetzt vielleicht noch nicht so gut, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du dort hin kommst.
Auf diese Mail hat die Studentin positiv reagiert und sich für die Erklärung bedankt. Bei mir bleibt jetzt trotzdem ein Unbehagen: Der MOOC soll Spaß an Mathematik vermitteln und nicht einschüchtern. Wie aber kann man solche Krisen bei Studierenden vermeiden, ohne dabei das Konzept aufgeben zu müssen? Wie kann man das didaktische Design des MOOC vertreten, ohne Prüfungsängste zu schüren? Wie kann man Spaß an diesem Konzept vermitteln und trotzdem die Prüfungssituation ernst nehmen? Wie kann man die Ängste bereits von Anfang an sensibel aufgreifen und abfedern? Wie schafft man das bei 150 verschiedenen Menschen im Hörsaal?