Eine liebe Kollegin aus Berlin, Andrea Hoffkamp, mit der ich gemeinsam im hochschul-mathematikdidaktischen Projekt SAiL-M arbeite, hat mir in einer E-Mail ein paar Fragen gestellt, auf die ich hier gerne antworten möchte. Doch zunächst die Mail von Andrea:
Lieber Christian,
Du weißt ja, dass ich derzeit Workshops für Mathematik-Hochschuldozenten durchführe. In einer ersten Sitzung mit den Dozenten haben wir eine Bestandsaufnahme der drängendsten Anliegen und Probleme in Mathematikveranstaltungen gemacht. Dabei wurden u.a. folgende Punkte diskutiert: Wie schafft man es, in großen Veranstaltungen die Studierenden zu aktivieren? Man ist hier ja in der Zwickmühle, da es einerseits gilt eine große Stofffülle zu absolvieren und man andererseits nicht an den Studierenden vorbei dozieren möchte. Es wurde auch oft moniert, dass Studierende auf Fragen nicht antworten und nicht zur Mitarbeit zu bewegen sind.
Ich möchte nun ein paar BestPractice-Beispiele zur Verfügung stellen, die Anregungen bieten, sich dieser Probleme anzunähern. Du hast doch letztes Semester Deine Arithmetik-Vorlesung aufgezeichnet und online gestellt. Dein Ziel war, diese Vorlesungsvideos in diesem Semester zu nutzen mit der Idee, dass die Studierenden sich inhaltlich auf die Vorlesung vorbereiten, indem sie die Videos ansehen, damit Du in der Vorlesung mehr Zeit hast, mit den Studenten gemeinsam zu arbeiten. Ich habe da mal einige Fragen, die ich auch im Sinne von Dozenten stellen möchte, die geneigt sind, diese Idee aufzugreifen:
Die erste Frage ist: Wie läuft es denn so? Geht Dein Konzept auf? Funktioniert es?
Wenn ja, was muss man tun, damit es funktioniert? Wie bekommt man Studierende dazu, sich die Videos tatsächlich anzusehen und vorbereitet zu sein? Braucht man ein spezielles Charisma (z.B. besonders mitreißend zu sein) oder meinst Du, dass das jeder machen könnte? Verlangst Du, dass jedesmal 90 Minuten Video zur Vorbereitung angesehen werden müssen oder nimmst Du nur bestimmte Ausschnitte?
Warum glaubst Du überhaupt, dass Videos besser sind als ein Skript, was die Studierenden ja auch zur Vorbereitung nutzen könnten?
Und eine Frage, die mich sehr interessiert: Was machst Du denn mit der Zeit, die Du dadurch gewinnst? Wie arbeitest Du mit Deiner großen Gruppe? Warum sind die Studierenden tatsächlich aktiv in der Vorlesung?
Ich bin schon sehr gespannt auf Deinen Bericht und Deine Antworten!
Liebe Grüße aus Berlin
Andrea
Na, dann mach ich mich mal an die Antworten. Ich gebe auch den Studierenden bescheid, damit sie sich hier an der Diskussion beteiligen können.
Zur ersten Frage: Ich denke, es läuft gut. Die Studierenden melden jedenfalls zurück, dass die Sache mit den Vorlesungsvideos in Vorbereitung auf die nächste Sitzung hilfreich ist. Meine Idee dahinter ist: Wer die Zeit in Vorbereitung steckt, hat mehr von einer Sitzung und den darin stattfindenden Diskussionen als jemand, der dieselbe Zeit in Nachbereitung steckt (was meist gleichzusetzen ist mit Vorbereitung auf die Klausur). Der Vorteil: Die Studierenden können in Ruhe und in ihrem eigenen Tempo den Vorträgen folgen und mich bei Bedarf auch zurückspulen oder anhalten – Das ist in normalen Vorlesungen nicht möglich (zumindest nicht individuell).
Die Videos zur Vorbereitung dauern – zusammengenommen – jeweils 60 bis 90 Minuten, d.h. es ist durchaus die Länge einer tatsächliche Vorlesung, die vorzubereiten ist. Ich habe in früheren Vorlesungen, als ich noch keine Aufzeichnungen hatte, die Studierenden mit Texten vorbereiten lassen („Lesen Sie bitte Kapitel 3 bis nächste Woche zur Vorbereitung.“). Bei fachdidaktischen Veranstaltungen klappt dies ganz gut, bei fachlichen Veranstaltungen hatte ich aber den Eindruck, dass die Texte nicht wirklich tief verarbeitet werden. In der Mathematik unterliegt man schnell der Illusion des Verstehens: Man überfliegt etwas und denkt, man hat’s verstanden. Und man realisiert nicht, dass man es wirklich Schritt für Schritt durcharbeiten müsste, um es tatsächlich zu verstehen. Texte lassen sich zu leicht überfliegen. Vorlesungsvideos haben den Vorteil: Sie verlangsamen die Rezeption der Inhalte – man kann Videos nicht „überfliegen“. Man muss den einzelnen Schritten des Dozenten „relativ langsam“ folgen. Darüber hinaus konnte ich die Dinge so erklären, wie ich es für gut halte (und war nicht abhängig von irgendwelchen „Fremdtexten“). Insofern ist die Vorbereitung mit meinen eigenen Videos passgenau zu den Inhalten und Prozessen, die mir persönlich wichtig sind; passgenauer als es jemals irgendein Text sein könnte!
Wie erreicht man, dass Studierenden sich tatsächlich vorbereiten? Ich denke, ganz wesentlich ist, dass man wirklich in der nächsten Sitzung voraussetzt, dass sie sich vorbereitet haben, und dass den Studierenden klar wird, dass man ohne Vorbereitung gar nicht zu kommen braucht, weil man sonst nichts versteht. Würde ich in der nächsten Sitzung jeweils alles nochmal wiederholen, dann wäre die Vorbereitung ja „unsinnig“ – diesen Fehler darf man nicht machen! Ob man bestimmtes „Charisma“ braucht, damit man die Studierenden davon überzeugen kann, weiß ich nicht. Das können die Studierenden vielleicht besser beantworten. 🙂
Die Sitzung selbst (also die „eigentliche Vorlesung“) nutzen wir dann für die gemeinsame Bearbeitung von Aufgaben oder für das Hervorheben und Besprechen von Problembereichen. Aufgaben werden beispielsweise mit der Methode des Aktiven Plenums (oder Neuronenvorlesung) durchgeführt: Studierende kommen nach vorne, moderieren den Lösungsprozess (an dem sich alle beteiligen!) und halten die wichtigsten Schritte an der Tafel fest, während ich mich nach hinten setze und nur bei Bedarf einschreite. Manchmal führe ich auch selbst durch eine Problemlösung, oder ich moderiere den Prozess – je nachdem, wie ich es gerade für sinnvoll erachte. Die Studierenden sind dabei permanent angesprochen (es handelt sich sozusagen ständig um Unterrichtsgespräche), sodass gar kein Zweifel aufkommt, dass wir alle gemeinsam arbeiten müssen. In der letzten Woche habe ich ein Feedback eingeholt, und die Studierenden haben dabei als Kritik geäußert, dass die gemeinsam bearbeiteten Probleme in der „Vorlesung“ zu leicht seien – hier muss ich also noch schwierigere Aufgaben herausgreifen (Ich finde, das alleine ist schon grandios! Die Aufgaben sind zu leicht? Okay, gerne – lasst uns schwerere Aufgaben machen!).
Das ganze Konzept weist den Studierenden eine hohe Selbstständigkeit und Selbstverantwortung zu – und genau das will ich auch unterstützen und bewirken.
Wer mehr zu den jeweiligen Konzepten erfahren möchte, hier ein paar Verweise zum Stöbern:
- Planung einer Vorlesungsaufzeichnung
- Vorlesungsvideos Zwischenstand (vom letzten Semester)
- Vorlesungsvideos: The End (letztes Semester)
- Alle Videos zur „Einführung in die Arithmetik“
- Aktives Plenum: Neuronen in der Vorlesung
- Aktives Plenum: Methodische Aspekte
- Aktives Plenum: Feedback der Studierenden I und Feedback II
- Kortenkamp und Spannagel im Gespräch: Der Sinn und Unsinn von Vorlesungen
- Spannagel, C. (2011). Das aktive Plenum in Mathematikvorlesungen. In L. Berger, C. Spannagel & J. Grzega (Hrsg.), Lernen durch Lehren im Fokus. Berichte von LdL-Einsteigern und LdL-Experten (S. 97-104). Berlin: epubli.
So, ich hoffe, ich habe alle Fragen beantwortet und keine vergessen. 😀 Und wie immer gilt: Ich freue mich sehr über Kommentare, Anregungen, Ideen und Rückfragen!