Jede(r) ist Wissenschaftler(in)! – Fortsetzung

Veröffentlicht: Donnerstag, Dezember 29, 2011 in OeffentlicherWissenschaftler

Auf meinen letzten Blogbeitrag hat unter anderen Jean-Pol Martin sehr ausführlich geantwortet. Ein Auszug:

Das ist die Arbeit des Professors: seinen Studenten spannende Forschungsfelder anzubieten und sie BEI BEDARF mit entsprechenden Instrumenten (Methode) auszustatten. BEI BEDARF bedeutet: a posteriori. Die traditionelle Wissenschaft macht es anders: sie tötet allzu oft die große Freude und Neugierde der Studenten von Beginn an, indem sie sofort (also a priori) das methodische Rüstzeug eintrichtert, obwohl das Bedürfnis nach sauberen Forschungsinstrumenten noch gar nicht da sein kann, weil der Student seinen Forschungsgegenstand noch gar nicht zu Gesicht bekommen hat! […] Der Prof soll forschungsinduzierende Felder erspähen und seinen Studenten anbieten. Er soll die forschungsbezogene Reflexion, die allein durch die Begegnung mit dem Forschungsfeld bei den Studenten entstanden ist, organisieren und koordinieren und die entstehenden Emergenzen (Innovationen) identifizieren. Er soll auch permanente Konzeptualisierung (Modellbildung) anregen und anleiten.

Jean-Pol bezieht es hier direkt auf das Professoren-Studenten-Verhältnis, ich weiß aber, dass er er letztlich auch weiter sieht: Die Aufgabe des Berufswissenschaftlers ist es, in Projekten (z.B. Praxisprojekten, Web-Projekten, Schulprojekten, …) die Rolle des Wissenschafts-Experten einzunehmen, aus dieser Perspektive mitzuwirken und dabei kollektive Wissenskonstruktion in der Projektgruppe anzuregen und anzuleiten. Berufswissenschaftler, die sich aus dem Wissenschaftbetrieb „hinaus“ in Praxiskooperationen „hineintrauen“, können in diesen Projektgruppen Impulse „hin zum wissenschaftlichen Denken“ geben, die wissenschaftliche Arbeit anleiten und die anderen beteiligten Personen in ihren eigenen Forschungsprozessen unterstützen. Nichtberufswissenschaftler können in Kooperationen mit Berufswissenschaftlern ihr eigenes wissenschaftliches Denken, ihre eigenen Konzepte von Wissenschaft und ihre wissenschaftlichen Methoden weiterentwickeln.

Aber, ist das denn wirklich Wissenschaft? Wenn Laienwissenschaftler in irgendwelchen Praxisprojekten – zwar mit wissenschaftlichen Methoden vielleicht, aber trotzdem – popelige Baby-Ergebnisse herausbekommen? Was ist denn das für eine Wissenschaft? Agieren Schülerinnen und Schüler wirklich als Wissenschaftler, wenn sie Ergebnisse in ihren Forschungsprojekten herausbekommen, die schon längst bekannt sind?

Antwort: Es geht doch überhaupt nicht darum, dass in solchen Projekten Erkenntnisse an der menschlichen Wissenschafts-Front gewonnen werden (By the way: Ich bin mir nicht mal sicher, auf wie viel Prozent der Erkenntnisse der Berufswissenschaft das zutrifft). Es geht darum, dass Erkenntnisse gewonnen werden, die in einem bestimmten System (z.B. in der Firma, in der Schulklasse, …) noch nicht bekannt sind, und zwar (und das ist das entscheidende): systematisch, reflektiert, mit wissenschaftlichen Methoden gewonnen. Innerhalb dieses Systems gibt es dann anschließend eine neue Erkenntnis, und die Menschen in diesem System, welche die Erkenntnis gewonnen haben, dürfen sich zurecht Wissenschaftler(innen) nennen.

Wenn also beispielsweise ein Mensch in seiner Firma ein komplexes Problem vorfindet oder sich ihm eine bedeutsame Frage stellt (wie z.B.: „Weshalb verkauft sich dieses Produkt nicht so gut?“, „Weshalb wollen sich meine Mitarbeiter nicht selbstständig weiterbilden?“, usw.), dann kann eine Vorstellung von wissenschaftlichem Arbeiten, dann kann wissenschaftliches Denken, dann können wissenschaftliche Methoden bei der Lösung des Problems oder beim Beantworten der Frage helfen (beispielsweise durch eine ordentlich geplante und durchgeführte Befragung). Wissenschaftliche Methoden dienen ja schließlich dem Gewinnen von Erkenntnissen. Die konkrete Praxisfrage soll also nicht „irgendwie“, sondern systematisch beantwortet werden, um zu qualitativ besseren Ergebnissen zu gelangen.

Wenn solche Nichtberufswissenschaftler jedoch nicht ausreichend wissenschaftlich-methodisch fit sind (bzw. sich nicht fit genug fühlen), dann könnten sie doch ihr Problem in interdisziplinären Gruppen unter Mitwirkung eines oder mehrerer Berufswissenschaftler gemeinsam lösen – so zumindest verstehe ich den Mode 2 der Wissensproduktion (vielleicht ist es aber sogar eine Weitung dieses Begriffs). Dabei lernen die Nichtberufswissenschaftler wissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen (a posteriori bzw. einfach währenddessen), während der Berufswissenschaftler ein Praxisfeld vorfindet, in dem praxisrelevante und forschungsintensive Fragen aufgeworfen werden, und in dem auch er Anküpfungspunkte und wertvolle Anregungen für die eigene Forschungsarbeit finden kann. Nicht zuletzt erdet Praxisnähe ja auch, und vielleicht wird so die ein oder andere praxisirrelevante Frage in der Berufswissenschaft nicht mehr gestellt.

Das Web kann schließliche dazu dienen, interessierte Partner zu finden, die in derartigen Projekten mitwirken wollen. Die gemeinsame Arbeit kann dort strukturiert werden, Diskussionen und Arbeitsprozesse können webgestützt ablaufen, in Wikis, in Foren, in Etherpads, sonstwo. Open Science 2.0 eben.

Kommentare
  1. Moin, ich habe neulich ein Experiment durchgeführt, welches nicht ganz so klappte. Das Doppelspaltexperiment wurde schon im 19. Jahrhundert mit Licht durchgeführt, also liegt es nicht an der mangelnden Technologie. Mich stellt die Frage: wo bin ich richtig aufgehoben? Frage ich den Professor Quantum persönlich per Mail oder melde ich mich erstmal bei researchgate.com an oder frage ich auf Twitter, bis einer antwortet.

    Will sagen: trotz aller Möglichkeiten des Netzes und aller Suchmaschinen muss man manchmal auch wissen, wo man suchen muss.

  2. cspannagel sagt:

    @Klaus Ja und nein. An deiner Stelle würde ich vermutlich den Versuch und das Problem einfach mal in meinem Blog beschreiben und den Artikel im Web „verteilen“, um Aufmerksamkeit darauf zu ziehen (Twitter, Google+ usw.). Vielleicht meldet sich jemand mit einem Hinweis – vielleicht auch nicht. Gewissheit gibts nicht, und DIE Methode, tatsächlich jemanden zu finden, der einem hilft, auch nicht. Aber das Web bietet die einfache Möglichkeit dazu (viel einfacher als früher!), und das ist ja schon mal was!

  3. Oliver Tacke sagt:

    Wir könnten überlegen, ob das eine Erweiterung oder doch eine Einschränkung des Mode 2 ist – oder beides.

    Kieser, Leiner und Nicolai etwa diskutieren dazu, dass es in „der“ Wissenschaft nicht auf Praxisrelevanz ankäme, sondern auf Rigor (Exaktheit, Stimmigkeit, …) und argumentieren, Nichtberufswissenschaftler könnten mangels Verständnis und wegen unterschiedlicher Codes (Systemtheorie, Luhmann) nicht dabei helfen, für die Wissenschaft entsprechende Erkenntnisse zu gewinnen.

    Wenn also die Transdisziplinarität nicht zu solchen rigorosen Ergebnissen (Produkt) führt, sondern nur zu solchen, die in der Praxis von Wert sind, könnte das als Einschränkung des Mode 2 begriffen werden. Wenn die Weiterentwicklung der Menschen (Produzenten) ins Spiel kommt, ist das aber vielleicht eine Erweiterung, die bisher nicht betrachtet wurde.

    Was ich vielleicht nur (falsch) herauslese, ist zudem der Aspekt einer leichten Hierarchisierung: Die Nichtberufswissenschaftler arbeiten interdisziplinär, der Berufswissenschaftler gibt Impulse und regt an. Müsste hier aber nachschlagen, ob das dann noch als Transdisziplinarität im Sinne des Mode 2 verstanden würde.

    Und ich spinne noch weiter: Angenommen, Berufswissenschaftler könnten tatsächlich nicht von den anderen Perspektiven und vielleicht unverbrauchteren Ideen von Nichtberufswissenschaftlern profitieren – dann müsste man konsequenterweise auch die humboldtsche Idee der Einheit von Forschung und Lehre begraben, denn genau darum ging es Humboldt bei der symbiotischen Beziehung zwischen Professoren und Studierenden. Andersherum: Wenn Angehörige von Unis felsenfest behaupten, sie seien dem humboldtschen Ideal verpflichtet, müssten sie eigentlich auch den Mode 2 unterstützen.

    Soweit die ersten Gedanken dazu am Morgen.

  4. Eine anmerkung nach lektüre dieser (für mich persönlich sehr beglückenden) einträge: ich bin Didaktiker: als solcher sehe ich meine aufgabe darin, den natürlichen forscherdrang von menschen aller altersklassen anzuregen, indem ich entsprechende forschungsfelder ausweise. Als meine kinder 10 jahre alt waren, fuhr ich nach paris ins museum Louvre und raste mit ihnen zu allen sälen, die lustig und spaßig waren. Ich erklärte meinen kindern mit vielen pantomimen und absurden bewegungen den übergang von der antike zum mittelalter, vom mittelalter zur renaissance usw… Bildung sollte für sie mit fröhlichkeit verbunden werden. Sie sollten süchtig nach exploration und wissenserwerb werden. Auch mit meinen studenten verfuhr ich später so. Daher vertiefte ich mich nicht in details sondern ich vermittelte überblicke über die geschichte von der antike bis zur gegenwart in möglichst kurzer zeit. Heute tue ich das mit älteren menschen (30 philosophen in 12 sitzungen) und wenn sie blut geleckt haben, gehe ich größere projekte an, wie z.B. dieses:

    TdM (Tag der Migranten): Artikel im Donaukurier!

  5. cspannagel sagt:

    @Oliver Und wie begründen Kieser et al., dass es in der Wissenschaft nicht auf Praxisrelevanz ankommt? Ich würde sagen: Nicht nur, aber auch! Natürlich gibt es auch Bereiche, die Grundlagenforschung sind und bei denen keine direkte Anwendung absehbar ist. Aber für meinen Bereich beispielsweise (Bildungswissenschaften) würde ich sagen: Die Praxisrelevanz ist geradezu essentiell. Und ich verstehe auch nicht, weshalb Erkenntnisse, die in Praxiskontexten gewonnen wurden, nicht für die Wissenschaft dienlich sein sollten. Gibt es dafür Begründungen?

    Zur Hierarchie: Ja und nein. Ich denke natürlich an gleichberechtigte Personen in den transdisziplinären Teams, bei denen jeder seine Expertise einbringt und von der Expertise der anderen profitiert. Insofern: nicht hierarchisch. In jedem Expertisebereich allerdings gibt es natürlich schon ein „Hierarchiegefälle“ – oder, ich würde es anders sagen: „ein Experten-Laien-Verhältnis“. Der Wissenschaftler ist bezüglich wissenschaftlicher Methoden den anderen Teammitgliedern voraus – und berät und leitet diesbezüglich an. Die anderen haben vielleicht mehr Praxismethoden drauf – und beraten den Wissenschaftler. Ich habe es oben nur aus einer Perspektive dargestellt, letztlich handelt es sich aber sowohl um symmetrische Beziehungen (jeder bringt was ein, jeder profitiert von der Zusammenarbeit) als auch um asymmetrische Beziehungen (bzgl. verschiedener Aspekte ist immer einer Experte und die anderen nicht).

    @Jeanpol „ich bin Didaktiker: als solcher sehe ich meine aufgabe darin, den natürlichen forscherdrang von menschen aller altersklassen anzuregen, indem ich entsprechende forschungsfelder ausweise.“ – Danke für diese Formulierung! Die bringt es für mich auf den Punkt. Ist also evtl. das oben beschriebene Konzept nur für Didaktiker bzw. Bildungswissenschaftler interessant?

  6. Oliver Tacke sagt:

    Rigor vs. Relevance: Ich schicke dir einfach den Artikel 🙂 Kurz etwas überzogen wiedergegeben: Relevanz ist gefragt (ist ja auch immer Gutachterkriterium), aber bloß so, wie sie sich die Wissenschaftler das sozial konstruiert vorstellen.

    Also so etwas wie ein Verzicht auf legitimierte Macht durch Rang, Stelle, usw., sondern einzig nach Expertise. Erinnert mich an einen Artikel, den ich gestern gerade gelesen habe: „Schafft die Manager ab!“ von Gary Hamel in der aktuellen Ausgabe des Harvard Business Manager. Dort wird so eine Struktur auch für Unternehmen vorgeschlagen, inklusive bereits real existierendem Beispiel „Morning Star“. Da gibt es keine Chefs.

  7. […] Jede(r) ist Wissenschaftler(in)! Fortsetzung bei … dunkelmunkel […]

  8. Da hier nicht weiter kommuniziert wird, erlaube ich mir einen beleg einzuparken zur fähigkeit von studenten, bereits zu beginn des studiums sehr anspruchsvolle und spannende projekte durchzuführen. Im rahmen des von mir entwickelten moduls „internet- und projektkompetenz“ (Bereich Schlüsselqualifikationen). Das modul habe ich an der uni eichstätt vor 10 jahren in allen studiengängen angeboten. Es war hochschulübergreifend und wurde seitdem von mehreren hundert stundenten belegt: http://home.arcor.de/susanne.faschi/

  9. cspannagel sagt:

    @Oliver Das kommt mir ja schon höchst suspekt vor mit der sozial konstruierten Relevanz. Ich bin gespannt auf den Artikel. 🙂

    @Jean-Pol Danke für den Hinweis auf IPK! Und… Schüler können das auch schon. Aber weißt du ja. 🙂

  10. otacke sagt:

    Der Artikel müsste doch schon da sein? Schau mal rein.

  11. Danke für das Angebot. Werde ich gerne machen. Muss noch zwei weitere Artikel schreiben, technische Artikel, da kann mir laut Oliver kein Nicht-Informatiker bei helfen ;-))

    Wäre auch mal interessant, ob es eine Artikel-Crowd gibt.

  12. cspannagel sagt:

    @Klaus Was meinst du genau mit dem Begriff „Artikel-Crowd“?

  13. […] netzforschen.de aufzugreifen versuchen: Jeder Mensch ist in seinem Alltag ein Wissenschaftler bzw. eine Wissenschaftlerin. So wie wir neugierig unsere Welt erleben, stellen wir uns Fragen über sie und unser Erleben, und […]

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