Ein Kommentar von itari zu meinem Beitrag Twitter und der sechste soziale Sinn beginnt folgendermaßen:
Im Moment erkenne ich noch nicht, warum Twitter für die geschilderte Situation des wechselseitigen Wahrnehmens mehr Vorteile haben würde als ein Chat-Channel.
itaris Kommentar hat mich dazu angeregt, über die Unterschiede zwischen Twitter und einem normalen Chat-Channel nachzudenken – und diesen Gedanken gleich einen eigenen Artikel zu widmen. Was ist so besonders an Twitter – gegenüber einem Chat-Channel? Hier einige Überlegungen:
Twitter kann als Chat verwendet werden – fraglich ist, ob es das sollte. Mehr als kurze Wortwechsel finden dort eigentlich in der Regel nicht statt. Wenn man sich zahlreiche Tweets ansieht, so wird man feststellen, dass doch neben direkten Gesprächen die Status-Updates vorherrschen. Menschen schreiben, was sie gerade denken, fühlen, tun oder vorhaben zu tun. Sie schreiben, welche interessanten Webseiten sie gerade gefunden haben, sie regen sich über Fernsehsendungen auf, oder sie fragen, ob jemand eine Kippe hat (ohne eine echte Reaktion zu erwarten). Wenn ich twittere, dann bin ich eigentlich nicht in erster Linie daran interessiert, mit anderen zu sprechen. Ich bin in erster Linie daran interessiert, an den Gedanken anderer, ja sogar an deren Leben teilzuhaben.
Chatten ist eine Tätigkeit, der man entweder hauptsächlich nachgeht („Ich will jetzt chatten“), oder beiläufig im Kontext einer anderen Tätigkeit (beispielsweise in Form eines Chat-Channels, während man eine Online-Vorlesung verfolgt). Beides Situationen ist gemeinsam, dass man sich bewusst auf ein Gespräch mit anderen einlässt – sei es, um einfach „kontextlos“ zu quatschen, oder um sich „kontextgebunden“ auszutauschen, z.B. über die Vorlesungsinhalte. Zudem erwartet man eine Antwort des Gegenübers. Twitter ist – anders. Twitter ist allgegenwärtig. Ich twittere nicht mit der Intention, mich auf ein Gespräch einzulassen. Ich twittere einfach, weil ich eine Information in mein Netz einspeisen möchte – völlig egal, ob das jemand mitkriegt oder nicht. Ich erwarte keine Antwort. Und ich lese auch nicht die Tweets der anderen Personen in meinem Netz, um ein Gespräch zu beginnen. Ich lese sie, einfach um zu wissen, was die anderen so machen. Natürlich ergeben sich dabei immer wieder kurze Sequenzen des direkten Austauschs, sei es über @’s oder über direct messages – das sind aber eher beiläufige kurze Intermezzi der direkten Kommunikation.
Um ein Bild zu gebrauchen: Stellen wir uns vor, wir seien in einem Großraumbüro ohne Trennwände. Jeder kann sehen, was der andere macht. Ab und zu geht man durch’s Büro und schaut sich um. Wenn man etwas bestimmtes bei einem Kollegen sieht, dann spricht man ihn kurz darauf an, dieser antwortet, und man geht weiter. Man ist allzeit „aware“ der Dinge, die in der Gruppe passieren. So bekommt man auch z.B. mit, wenn sich zwei Personen untereinander kurz austauschen, einfach im Vorbeigehen. Das ist Twitter. Chatten hingegen ist anders: Chatten ist mehr wie die Mittags- oder die Kaffeepause, in der alle ihren Arbeitsplatz verlassen, in die Kantine gehen, sich eine halbe Stunde hinsetzen und plaudern – einfach um zu plaudern. Hierfür gibt es bestimmte Zeiten oder Gelegenheiten. Twitter hingegen „ist immer“ – allgegenwärtig. Hier spielt nicht nur das gesprochene Wort eine Rolle, sondern das, was man tut. Twitter ist authentischer, unmittelbarer, direkter am Leben.
Ein weiteres Bild: Chatten ist wie sich mit Freunden in einem Café oder einer Kneipe treffen und quatschen. Man macht sich schick, geht an einen bestimmten Ort, trifft sich dort, redet, und nach einer gewissen Zeit geht man wieder. Eine herausgehobene Situation, in der viele versuchen „sich zu geben“, „sich darzustellen“, „zu wirken“ usw. Twitter hingegen ist mehr wie Alltag – in der Jogginghose vor dem Fernseher, bügelnd mit der Kippe im Mund, gähnend im Zug sitzend, und alle sind dabei.
Ich weiß genau, was einige jetzt denken: Auf Twitter kann man auch unauthentisch sein. Ehrlich gesagt – ich glaube es nicht.