Der flipped classroom auf dem #clc11

Veröffentlicht: Sonntag, September 11, 2011 in Teaching, Vorlesungsaufzeichnung
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Gestern hab ich mit Oliver Tacke eine gemeinsame Session zum Thema Flipped Classroom auf dem CorporateLearningCamp 2011 in Darmstadt angeboten. Oliver hat zunächst ein wenig zu Gunter Duecks Thesen berichtet, anschließend habe ich mein Konzept der umgedrehten Mathematikvorlesung präsentiert. In der zweiten Phase der Session haben wir die Teilnehmer zunächst in Kleingruppen überlegen lassen, welche Pros und Contras es für den Einsatz des flipped classroom in ihren persönlichen Kontexten (im Wesentlichen die betriebliche Aus- und Weiterbildung) gibt. Anschließend wurde alles in einem Aktiven Plenum zusammengetragen (um auch eine Form von LdL zu demonstrieren, was Oliver in der Session zuvor erläutert hatte). Das Ergebnis wurde von zwei Teilnehmern (danke an Pätrick und Frieder) an der Tafel festgehalten. Da sich solche Tafelbilder für Außenstehende selten von selbst erklären, hier ein paar zusammenfassende Statements zum Einsatz des flipped classroom im corporate learning:

Chancen / Ideen / Möglichkeiten:

  • Verringerung der Heterogenität des Vorwissens der Teilnehmer: Man bringt durch die Videos im Vorfeld die Teilnehmer mehr oder weniger bezüglich bestimmter Dinge auf denselben Stand. Im Realtreffen selbst kann dann von dieser gemeinsamen Basis aus begonnen werden.
  • Kostenreduktion: Wenn Aufzeichnungen vorliegen, können vielleicht hier und da Kosten eingespart werden, z.B. kann die reale Sitzungszeit in manchen Kursen gekürzt werden (ohne dabei die Realtreffen komplett einzusparen, das wäre ja nicht flipped.)
  • Didaktische Qualifikation des Dozenten: Trainer sind gefordert, sich andere Methoden und Aktivitäten als (PowerPoint-)Vorträge für Realsitzungen auszudenken. Dies beflügelt mitunter die didaktische Phantasie und führt zu einer didaktisch-methodischen Weiterqualifikation des Dozenten.
  • Größere Autonomie der Teilnehmer: Dieses Pro hat mir am besten gefallen. Die Teilnehmer werden durch die vorbereitenden Videos sozusagen ermächtigt, in den Realtreffen handelnd und diskutierend tätig zu werden. Sie werden im Vorfeld „wissend“ gemacht (natürlich nur soweit, wie dies durch Vorträge möglich ist), und dieses Wissen können sie dann in der Realsitzung nutzbringend im Rahmen von Aktivitäten einsetzen. Sie haben so die Chance, sich kompetent zu fühlen, weil sie sich entsprechend vorbereitet haben.

Grenzen / Gefahren / Probleme:

  • Didaktische Qualifikation des Trainers: Dieser Punkt tauchte schon unter den Pros auf, nun auch unter den Contras: Manch ein Dozent kann eine offene Sitzung mit Aktivitäten und Diskussionen nicht gut leiten, manch einer will sich vielleicht auch nicht umstellen. Ein solches Konzept kann also am Widerstand des Dozenten, der sein altes Konzept weiter umsetzen möchte, scheitern.
  • Technische Plattformunabhängigkeit / Zugangsvoraussetzungen: Die Vorbereitungsphase mit Videos muss technisch so ausgestaltet sein, dass alle Teilnehmer daran teilnehmen können. Viele Mitarbeiter (beispielsweise in der Produktion) haben gar keinen Computer am Arbeitsplatz, sodass sie von dort aus die Videos nicht ansehen könnten.
  • Erhöhte Anfangsinvestition: Umstellungen bedingen immer einen höheren Aufwand zu Beginn. Beispielsweise müssen Videos erstellt und bereit gestellt werden. Hierfür benötigt man evtl. Hard- und Software. Darüber hinaus meinte ein Teilnehmer, dass erhöhte Kosten zu Beginn dadurch entstehen, wenn man unvorbereitete Teilnehmer wieder nach Hause schickt.

Ingesamt fand ich es äußerst spannend in dieser Session und auf dem ganzen Barcamp zu sehen, dass der Corporate-Learning-Bereich doch anders funktioniert und andere Anforderungen hat als der (Hoch-)Schulbereich. In der LdL-Session von Oliver Tacke  ist beispielsweise deutlich geworden, dass dieses Konzept in Unternehmen vermutlich schwer umzusetzen ist, weil die Beschäftigten oft nur 4-5 Tage Fortbildungskurse im Jahr haben und man in solch kurzen Zeiträumen kaum Konzepte umsetzen kann, die einer längeren Einführungsphase bedürfen und sie sich nur über einen längeren Zeitraum etablieren. Spannend finde ich genau diese Unterschiede, an denen sich die Diskussion entzündet und die das Denken anregen. Ein Grund, nächstes Jahr wieder auf das CorporateLearningCamp zu gehen.

Weitere Berichte vom Camp:

Kommentare
  1. Karl Kirst sagt:

    Im ZUM-Wiki hat Birgit Lachner eine Seite zum Flipped Classroom angelegt: http://wiki.zum.de/Flipped_Classroom

  2. Frieder sagt:

    Hallo Christian,

    erst einmal vielen Dank für die Zusammenfassung der Session, finde ich klasse um ein zweites darüber nachzudenken.

    Zu zwei Kontrapunkten habe ich jedoch noch Anmerkungen:
    Didaktische Qualifikation des Dozenten…
    Ich hatte auch verstanden, dass eine Qualifikation langwierig ist und bestehende Abläufe und Settings hinterfragt werden müssten. Dies will man nicht (Stabilität des Systems, Passung der Lehrmethoden zur Firma)

    Technische Plattformunabhängigkeit
    Für mich ist hier auch nochmal die gute alte Medienbildung mitgeschwommen. Die Teilnehmer wissen nicht, wie die neuen Lehrmaterialien zu bedienen sind, wie z.B. ein Portfolio funktioniert oder ähnliches. Und somit ist die Integration in die bestehenden Routinen umso schwieriger, auch wenn gerade kurz knackige Lerneinheiten (mobile learning…) gut geeignet wäre.

    Eine letzte Anmerkung
    Im Anschluss gab es eine kleine Diskussion, wieviel Inhalt in einer Lernstunde vermittelt werden muss, und wieviel Methode/ Stil (hier also das Organisieren einer Stunde und den Einsatz von verschiedenen Methoden wie Gruppenpuzzle etc.) durch die Methode an sich vermittelt wird. Und hier liegt die große Chance, dass durch LdL und ähnliche Ideen das informale Lernen verbessert werden kann, ja vielleicht sogar ein Peerlearning forciert wird. Es steht also nicht mehr der Content im Fokus, sondern das Lernen. Aus der Hochschule fällt mir hier das Beispiel der Vorträge in Seminaren ein, Inhalte sind häufig schlecht, doch die Studenten können ihre Präsentationskompetenz ausbauen und ihr Selbstbewusstsein stärken.

    Beste Grüße

    Frieder

  3. Lisa Rosa sagt:

    Ja, flipped classroom und LdL wäre sehr sperrig in nternehmen. man sieht daran, dass diese beiden formen eigentlich bloß ableitungen vom schulischen und universitären lernen sind, sie hängen noch am alten modell irgendwie nach dem muster: unterricht muss sein, aber wir unterrichten uns phasenweise selbst. oder: wir brauchen einen input, aber den setzen wir an eine andere stelle. nicht, dass ich die beiden ansätze nicht gut fände! aber das zeigt doch auch ihre gebundenheit an alte lernformen.

    im unternehmen ist es nicht unterricht sondern TRAINING. wir haben im unternehmen keine lehrer oder dozenten sondern TRAINER. sie spulen ein meist voll überladenes belehrungsprogramm ab, dass einem ganz anders wird. und vorne macht der trainer vor und die trainees müssen im gleichschritt – meist viel zu schnell – nachmachen. ich habe es gerade mit einer core media schulung erlebt. wir haben in zwei 6stündigen trainings lernen sollen, die coremedia-website unserer institution zu befüllen und zu pflegen. wir sind alle keine techies. uns standen die haare zu berge.
    das einzige, was hier hilft ist: learning by doing – und zwar mit peer2peer- unterstützung und beratung und hilfe durch einen geduldigen fachkompetenten medienfritzen. leider war der überhaupt nicht geduldig, sondern beschimpfte uns immer, wie doof wir wohl seien. („ihr seid die schlechteste gruppe, die ich je hatte!“) tolle wurst!
    in der unternehmensweiterbildung heißt effizienz wohl immer noch: so viel stoff wie möglich in so kurzer zeit wie möglich an soviele leute wie möglich runterleiern. (ob sie es dann können, ist ihr problem.)

  4. cspannagel sagt:

    @Karl und @Frieder Danke für die Hinweise und die Ergänzungen!

    @Lisa Ich würde Vorträge und Input nicht im Kontext „alter Lehrformen“ sehen. Ein Vortrag ist eine Methode. Okay, sie ist ziemlich alt. Aber deswegen nicht unbedingt schlecht. Wichtig ist, dass man sich überlegt, wie und wann man sie einsetzt (ich erzähl dir nix neues :-)). Insofern würde ich das so sehen: WENN ich denke, dass Input notwendig ist, DANN ist der flipped classroom ein ganz gutes Arrangement. WENN ich denke, dass kein Input notwendig ist, dann mach ich was anderes. Schlecht an „alten Lehr-/Unterrichtsformen“ finde ich, dass oft prinzipiell das Schema „Input – Anwendung“ durchgeführt wurde. Dabei finde ich das Schema an sich nicht schlecht, sondern seine prinzipielle Anwendung. In bestimmten Fällen ist „Input – Anwendung/Übung“ doch aber passend und gut.

    Zu Trainings: Ich geb dir hier völlig recht. Daran stört mich ergänzend auch, dass es sich dabei oft um Vorratslernen handelt: Wir machen mal zwei Tage Training zu irgendwas, das könnt ihr dann anschließend selbst in euren Firmenkontext übertragen. Nach eins, zwei Monaten ist von dem „Gelernten“ nix mehr übrig. Coaching on the job – das wär was. Aber das ist vermutlich viiiiel zu teuer. 😀

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