Gastbeitrag: netzforschen.de

Veröffentlicht: Sonntag, April 15, 2012 in Gastbeitrag, OeffentlicherWissenschaftler

Nach meinem Vortrag über die sieben Todsünden in der Wissenschaft hat mich Roman Szymanski von der TU Darmstadt angemailt. Ihn hatten die Ausführungen zur öffentlichen Wissenschaft in dem Vortrag angesprochen, und er hat mir von dem Projekt netzforschen.de erzählt. Er und Thies Schneider, beide Psychologen in Darmstadt, haben dieses Projekt vor kurzem ins Leben gerufen. Ich finde, dieses Projekt darf verbreitet werden, und deshalb habe ich Roman angeboten, einen Gastbeitrag zu schreiben. Hier ist er. 🙂

„Am Anfang jeder Forschung steht das Staunen. Plötzlich fällt einem etwas auf.“

Der Titel meines Gastbeitrags ist ein Zitat des Verhaltensforschers und Zoologe Wolfgang Wickler. Das Zitat enthält eine grundlegende Idee, die wir durch unser Projekt netzforschen.de aufzugreifen versuchen: Jeder Mensch ist in seinem Alltag ein Wissenschaftler bzw. eine Wissenschaftlerin. So wie wir neugierig unsere Welt erleben, stellen wir uns Fragen über sie und unser Erleben, und sind dabei stets bestrebt geeignete Antworten zu finden, indem wir Vermutungen aufstellen, die wir dann durch mehr oder weniger geeignete Maßnahmen zu überprüfen versuchen. Mit Forschungsfragen, die den Kriterien der wissenschaftlichen Forschung entsprechen, sind viele der Fragen aus dem Alltag natürlich nicht zu vergleichen. Dennoch ist das Staunen bzw. das Suchen nach Antworten eine Eigenschaft, die jedem Menschen angeboren ist. Da diese Eigenschaft uns allen gemein ist, versucht das Projekt netzforschen.de neben dem gemeinsamen Fragestellen das gemeinsame Forschen zu fördern. Und zwar zu einem Thema, welches neuerdings das Leben einer Vielzahl von Menschen mitbestimmt. Ich möchte im Folgenden berichten, wie es zu dem Projekt kam und genauer durchleuchten, welche Ideen wir mit netzforschen.de verfolgen.

Wie wollen wir lehren? Am Anfang des Projekts netzforschen.de stand ein Lehrauftrag. Ich sollte einem Teil der Studierenden im 2. Semester des Studiengangs Psychologie das empirische Forschen näher bringen. Im Modulhandbuch war die Kompetenz, welche die Studierenden nach erfolgreichem Abschluss erlangt haben sollten, folgendermaßen umschrieben:

  Die Studierenden können exemplarisch eine theoretische Fragestellung in ein empirisches Forschungsprojekt umsetzen… Sie haben diese Kenntnisse in einer eigenen Untersuchung angewandt und kennen die besonderen Vorkehrungen, die bei deren Durchführung mit menschlichen (oder tierischen) Versuchsteilnehmern zu beachten sind…

Die Studierenden werden zum ersten Mal mit einer Forschungsfrage konfrontiert, sollen ein geeignetes Forschungsdesign erstellen, als Versuchsleiter agieren, Daten sammeln, auswerten, die Ergebnisse interpretieren und einen Bericht schreiben. Damit bietet sich eine optimale Gelegenheit, den Studierenden das Forschen „schmackhaft“ zu machen. Aber wie erreicht man dieses Ziel?

Warum nicht jegliche Kreativität und Neugier nutzen, die vorhanden ist? Thies Schneider (der zu diesem Zeitpunkt meine studentische Hilfskraft war) und Ich wollten das kreative Potential, welches in den Studierenden steckt, gleich zu Beginn fördern. Es war uns wichtig, dass die Studierenden gerade in dieser Veranstaltung, die ihre erste richtig Begegnung mit der Forschung darstellt, entdecken, wie kreativ sie beim Finden und Umsetzen eigener Forschungsideen sein können und dass Forschen Spaß machen kann. Wir benötigten ein interessantes Thema, welches die Studierenden betrifft und welches die Möglichkeit bietet, viele Fragen aufzuwerfen, die es Wert sind erforscht zu werden. Das Thema sollte das Interesse der Studierenden wecken, nach dem Motto: „diese Frage habe ich mir auch schon gestellt“. Wir kamen auf die Idee, „Soziale Netzwerke“ im Internet als Thema vorzugeben. Mehr nicht. Die Studierenden sollten eigenständig entscheiden, was sie bezüglich des Themas erforschen wollten.

Was macht das soziale Netzwerken im Internet zu einem interessanten und wichtigen Forschungsgebiet? Das Knüpfen und Aufrechterhalten sozialer Beziehungen hat durch diese Netzwerkseiten eine neue Form erhalten, die nun mittlerweile bei einer Vielzahl von Menschen zum Alltag gehört. Nach Angaben der Betreiber sind fast 800 Millionen Menschen alleine bei Facebook registriert. Es gibt kaum noch eine Marke, einen Hinweis, ein Lokal, eine Sendung, welches nicht den Facebook „Like Daumen“ auf einem Plakat, unter dem Logo oder in der Werbung enthält. Virtuell trifft man sich auf den Plattformen wie Facebook, StudiVZ, myspace, legt Profile an, gibt Informationen preis, kommuniziert, lernt sich kennen, stellt sich dar, managt eine neue Form der Identität usw. Man trifft in den Medien auf viele Aussagen über soziale Netzwerke und es werden dabei viele Fragen gestellt, was beweist, dass dieses Thema viele Menschen bewegt. Es folgen nur ein paar der Aussagen, welchen man in den Medien begegnet:

  • Der Autor Daniel Kehlmann sagte kürzlich in einem Interview: „Ich kenne Leute, die ihr Sozialleben komplett auf Facebook verlagert haben. Für viele Menschen ist es das neue Sozialeben, aber auf Dauer ein unbefriedigendes.“ (nachzulesen in der aktuellen Neon Ausgabe April 2012).
  • Die Neon schrieb in der April Ausgabe im Jahr 2010 einen Artikel, wie die Selbstdarstellung im Internet auf  den Charakter abfärbt.
  • Man muss nur auf spiegel.de das Stichwort Facebook eingeben und man merkt gleich, dass sich die Menschen nicht nur dafür interessieren, wie Facebook ihre Daten nutzt, sondern dass häufig Phänomene und Fragestellungen beschrieben werden, die unser Leben und Erleben mit diesen sozialen Netzwerkplattformen an sich betreffen (Beispiel): Wie wir uns fühlen, verhalten, denken und agieren mit und durch dieses, zwar nicht mehr unbekannte, aber doch immer noch relativ neue Medium.

Wie können mögliche Forschungsfragen gemeinsam entdeckt und entwickelt werden? Die Studierenden bekamen in der ersten Sitzung ausgewählte Literatur zu dem Thema und hatten die Aufgabe, sich bis zur zweiten Sitzung mögliche Forschungsfragen zu überlegen. Die Literatur diente als Anstoß und Hilfestellung. In der zweiten Sitzung wurde gemeinsam in der Gruppe über das Thema diskutiert, wobei Thies und ich eine moderierende Funktion einnahmen. Zu Beginn der Diskussion tauschten die Studierenden Erfahrungen aus, die sie oder andere in sozialen Netzwerken im Internet gemacht hatten. Nach kurzer Zeit stellten die Studierenden Verbindungen zu der Literatur her, die wir als Hausaufgabe ausgegeben hatten, oder zu anderen Theorien, die ihnen geläufig waren. Oder sie entwickelten eigene Theorien, über die sie dann in der Gruppe reflektierten. Sie fingen an, sich relevante Fragen zu erarbeiten und diese Fragen weiter zu differenzieren. Die Studierenden taten sich in Kleingruppen zusammen und wählten als Gruppe jeweils die Frage aus, für die sie sich am meisten interessierten. In den Kleingruppen entwickelten sie im Laufe der Veranstaltung ein geeignetes Forschungsdesign, um  die gewählten Fragen zu untersuchen, führten das entsprechende Experiment durch und interpretierten schließlich die Ergebnisse. Wir nahmen von Anfang an die Rolle der beratenden Experten ein, für die an oberste Stelle das Interesse der Studierenden stand. Wir bekamen von den Studierenden am Ende der Veranstaltung sehr positives Feedback. Schon während der Veranstaltung konnte man sehen, mit welcher Motivation und mit welchem Ehrgeiz die Studierenden bei der Sache waren. Es war erstaunlich, auf welche kreativen Ideen die Studierenden teilweise kamen, wenn es darum ging, ihr Forschungsvorhaben umzusetzen.

Soll es das gewesen sein? Während dieser Zeit waren uns die Begriffe öffentlichen Wissenschaft oder mode 2 noch nicht bekannt. Als der Lehrauftrag zu Ende war, setzten Thies und ich uns dennoch das Ziel, andere an unserer Forschung zu sozialen Netzwerken im Internet teilhaben zu lassen. Wir sind seither bestrebt, kontinuierlich mit anderen gemeinsam zu forschen. Vor allem mit Personen, die von den Fragen, die es zu erforschen gilt, betroffen sind. Gemeinsames Forschen bedeutet in unseren Augen, dass jeder teilhaben kann. Jeder, der möchte, soll die Möglichkeit besitzen, Ideen, Forschungsvorhaben, Umsetzung, Ergebnisse usw. zu diskutieren. Es soll fortwährend ein Austausch von Meinungen und Erfahrungen stattfinden, sowie das Potential von Vielen genutzt werden.

Das Projekt braucht einen Namen, wie sollen wir es nennen? Wir kamen auf die Idee, einen Blog zu entwickeln. Ein Blog ist in der Regel für jeden mit Internetzugang erreichbar, und es wird jedem ermöglicht Kommentare zu Artikeln zu hinterlassen, oder man kann auch Leute dazu einladen, Artikel zu schreiben. So können Ideen, Meinungen, Kritikpunkte usw. kontinuierlich und zu jedem veröffentlichtem Thema ausgetauscht werden. Wir haben unserem Projekt schließlich den Namen „netzforschen“ gegeben. Den Namen kann man auf zwei Arten verstehen: Einerseits enthält er das übergeordnete Thema Netzwerken (umgangssprachlich, für das Erleben und Verhalten in sozialen Netzwerken im Internet). Andererseits soll es auch als Aufforderung gelten: „Lasst uns ein Netzwerk aus Forschern aller Richtungen und Schichten bilden“. Unser Symbol ist die wissbegierige Eule, die mit der Lupe Sachverhalte genauer betrachten will.

Was genau soll untersucht werden? Cameron Marlow ist der Haussoziologe von Facebook. Er und sein Team haben das Netzwerk einer ersten Analyse unterzogen. Anhand der Nutzerdaten hat das Team das Beziehungsgeflecht der aktiven Facebook Nutzer analysiert. Das Team kann anhand der Nutzerdaten zum Beispiel „nur“ Fragen darüber beantworten, wer wen über wie viele Ecken kennt und wie viele Freunde der aktive Facebook Nutzer im Durchschnitt hat. „Gefühle bleiben für unsere Computer ein Rätsel“, ist eine Aussage, die Cameron Marlow selbst getroffen hat (Interview in der aktuellen Neon Ausgabe, April 2012). Und genau da setzen wir mit unserem Forschungsinteresse an:

  • Welche Faktoren beeinflussen das Verhalten und Erleben auf diesen Seiten? Und wie wirkt sich das Ganze auf unser Leben außerhalb des Netzwerkes aus?
  • Von welchen Faktoren hängt es ab, wie man sich im Netz selbst dargestellt?
  • Sind wir in unserer Darstellung im Internet immer ehrlich?
  • Werden wir auch so im Internet wahrgenommen, wie wir auch im Leben außerhalb des Internets erscheinen, oder wollen wir das vielleicht gar nicht? Inwieweit spielt hier die Persönlichkeit ein Rolle?
  • Sind wir eigentlich nur darin bestrebt, Feedback durch „Likes“ und positive Kommentare zu sammeln und führt das langfristig zu einer Veränderung, wie wir uns selbst und andere wahrnehmen?
  • Wovon hängt es ab, ob wir viel oder wenig Zeit auf solchen Seiten verbringen?

Das sind nur Beispiele an Fragen, die man sich stellen und ausarbeiten könnte. Einigen dieser Fragen sind die Studierenden in unserer Veranstaltung nachgegangen und kamen auf interessante Ergebnisse.

Was ist als Nächstes geplant? Der Blog befindet sich noch im Aufbau. Es gibt noch viel zu tun. Damit Netzforschen frei und unabhängig funktionieren kann, ist es ein Projekt, welchem wir uns in unserer Freizeit widmen. Es wurden mittlerweile ein Teil der Ergebnisse aus den Experimenten, die unsere Studierenden in der Lehrveranstaltung mit uns gemeinsam entwickelt und durchgeführt hatten, veröffentlicht. Aktuell sind wir dabei einer der Forschungsfrage bezüglich Offenheit der Menschen in sozialen Netzwerken im Internet nachzugehen. Dazu haben wir einen Fragebogen entwickelt, welcher nun getestet werden soll. Dabei geht es unter anderem auch um die Dimensionalität des Konstrukts Offenheit im Internet. Wir erhoffen uns dadurch später ein Messinstrument zur Verfügung zu haben, welches in weiteren Forschungsvorhaben eingesetzt werden kann. Vor allem wenn es um die Fragen geht, wie Menschen mit ihren persönlichen Daten im Internet umgehen, inwieweit die Offenheit mit dem tatsächlichem Verhalten, der Selbstdarstellung usw. zusammenhängt, oder ob an der Aussage etwas dran ist, dass vor allem Jugendliche im Internet allzu offen mit ihrer Person umgehen. Wir brauchen dafür noch eine Menge Leute, die unseren Fragebogen ausfüllen. Jede Weiterleitung und jede Beantwortung des Fragebogens hilft uns weiter.

Ideen für die nächsten Forschungsvorhaben sind auch schon vorhanden, aber noch nicht umgesetzt. Wir wollen die Facebooksucht untersuchen. Gibt es dieses Phänomen und inwieweit ist es mit anderem Suchterleben vergleichbar? Und wir wollen in Zuge der Diskussion über das Urheberrecht, in Erfahrung bringen, wie es um die subjektive Wahrnehmung des Urheberrechts tatsächlich bestellt ist.

Wir würden uns freuen, wenn viele auf die Seite aufmerksam werden und evtl. etwas an unserer Idee abgewinnen können. Unterstützen kann man das Projekt durch Kommentare zu den jeweiligen Artikeln, die auf netzforschen.de zu finden sind, oder man kann uns gerne Meinungen, eigene Ideen oder Vorschläge per E-Mail schicken:  info@netzforschen.de. Wir sind auch auf Facebook und würden uns über jedes „Like“ freuen.

Ich bedanke mich herzlich bei Christian, dass ich einen Gastbeitrag schreiben durfte und ich freu mich darauf, hier oder auf netzforschen.de von Euch/Ihnen zu lesen.

Viele Grüße

Roman

 

 

Kommentare
  1. Christoph sagt:

    Passend zum Projekt folgende sehr beeindruckende TED-Rede:

    Sherry Turkle: Connected, but alone?

  2. birkenkrahe sagt:

    Toller Beitrag, vielen Dank! Ich habe mich von Christian Spannagel inspirieren lassen, meine Forschung aus dem Dunkelmunkelraum ins Licht zu verlegen. Unter anderem bin ich am Aspekt des Identitätswechsels und des Spiels mit der eigenen Identität interessiert und wie man ihn für Lehre und Forschung nutzbar machen kann. Werde mich deshalb voller Freude gleich bei netzforschen.de reinhängen…mein eigener Blog (birkenkrahe.com) ist mir mittlerweile auch zu langweilig geworden, stattdessen blogge ich zu Forschungsthemen lieber in der Gruppe—elerner.de hat über 40 Autoren, das macht mehr Laune. Und eine Facebook-Gruppe oder -Seite ist natürlich nicht viel anderes als ein Blog (nur leider nicht so offen). Gerne schreibe ich zu dem Ansatz Netz-Identität und Forschen was, und wenn Ihr auf unserem elerner-Blog einen Gastbeitrag verfassen wollt, dann wären wir glücklich!

  3. […] Netzforschen: „Am Anfang jeder Forschung steht das Staunen. Plötzlich fällt einem etwas auf.“ … cspannagel […]

  4. Roman sagt:

    @Christoph: Vielen Dank für den Video Link. Ich konnte mir bis jetzt nur den Anfang ansehen, da sich heute bei mir youtube Videos nicht vollständig laden wollen (keine Ahnung voran das liegt). Aber der Anfang war schon sehr vielversprechend.

  5. Roman sagt:

    @birkenkrahe: Danke für die sehr interessante Rückmeldung. Ich habe mich schon etwas durch das elerner.de Blog geklickt und ich würde mich freuen, wenn wir einen Gastbeitrag verfassen dürften. Das mit der Identität in virtuellen Umgebungen finde ich eine ganz spannende Sache. Wie wir im Netz Identitätmanagement betreiben, wirft eine Menge Fragen auf. Viel wurde sich damit beschäftigt, dass man mit der Identität eher spielen würde und versucht sei, sich zu verstellen. Aber, wie sich in einigen Studien herausstellte, ist die Mehrheit bestrebt, sich im Netz so zu präsentieren, wie sie auch im Leben außerhalb des Internets sind. Und das finde ich die spannendere Frage. Wie bekommen wir das hin? Mit welchen Methoden ersetzen wir die ganze analoge Kommunikation, die uns im Netz nicht gegeben ist? Welche Wege die Menschen dann gehen, von Emoticons bis an welcher Stelle sie drei Punkte setzen usw., ist in meinen Augen sehr interessant zu beobachten. Die Frage ist dann auch, wie akkurat ist die Wahrnehmung, die ich von Menschen im Netz habe? Und wie wirkt sich diese Wahrnehmung auf die Begegnung mit der Person außerhalb des Netzes aus? Und auch wenn wir bestrebt sind, unsere wahre Identität im Netz darzustellen, sind viele bei der Sache „nicht ganz genau“. Viele wählen ja z.B. die Bilder von sich mit Bedacht aus, und helfen nicht selten mit Photoshop nach. Man präsentiert sich von seiner Schokoladenseite und bekommt dann evtl. genau dazu viele Rückmeldungen über das Netz. Beeinflusst das dann, wie man sich selbst wahrnimmt?
    Ich habe noch keine klare Vorstellung, wie man den Identitätswechsel für die Lehre nutzen kann, werde deswegen auch dem Link folgen. Das finde ich auch einen sehr interessanten Ansatz.

  6. birkenkrahe sagt:

    Danke für die lange Antwort! — Ich glaube, dass Identitäts-Management erst dann überhaupt Sinn macht, wenn ein Identitätsbewusstsein da ist. Für die Studien, die Du nennst, würde ich mich rasend interessieren—dass die Mehrheit sich „im Netz so zu präsentieren, wie sie auch im Leben außerhalb des Internets sind“ deckt sich nicht mit meinen privaten und beruflichen Erfahrungen. Der Satz bedeutet in Zeiten, in denen die Außengrenze „zum Internet“ zunehmend verwischt wird, auch etwas anderes als in früheren Zeiten. Dieses „nicht ganz genau“ nehmen halte ich für einen System-Effekt, eine unbewusste Absicht. Neben der Lehre interessiert mich auch die Netz-Identität von Forschern. Eine moderne Forscheridentität ohne Internet ist mittlerweile ebenso wenig vorstellbar. Wenn Identitäts-Wechsel so einfach ist, dann wird die Identität viel stärker Teil der Forschung. Das bevorzugt bestimmte Methoden (Bsp. Systemic Action Research) und benachteiligt andere möglicherweise…das müsste man untersuchen. Mein Ansatz in diese und andere Fragen Licht zu bringen ist auch methodisch ein wenig unorthodox, aber da das Thema vom Standpunkt der Identitätsforschung aus relativ wenig untersucht (vielleicht wenig ernst genommen?) wurde, scheint das gerechtfertigt. Eure Umfrage hab ich gemacht und bin jetzt gespannt! Vielleicht könnt Ihr irgendwann noch mit einigen Fragen nachlegen, die stärkeren Bezug auf die Netzrealität nehmen…kann man sich so einem spannenden Komplex wie „Facebooksucht“ wirklich auf der Basis klassischer Suchtforschung nähern? Ich kenn‘ mich nicht aus, aber Euer Projekt ist super-spannend!

  7. Roman sagt:

    Als Text könnte ich von Scherer und Wirth: „Ich chatte – wer bin ich?“ in der Zeitschrift Medien & Kommunikationswissenschaft Jahrgang 2002/3 empfehlen. Die Autoren beschreiben ganz gut, wie Identitätsmanagement betrieben wird und verweisen auf nützliche Literatur zu dem Thema. In ihrer eigenen Studie, die in dem Text beschrieben wird, haben sie z.B. herausgefunden, dass die meisten ihrer Befragten um eine authentische Darstellung im Netz bemüht sind, aber vor allem Jugendliche kleine Mogeleien vollziehen würden, damit sie Vorteile in der Kommunikation haben. So würden sich in dem Untersuchten Chat viele Jugendliche älter machen, als sie sind, weil sie dann bessere Chancen hätten, in den Chatgesprächen beachtet zu werden. Ich bin mir nicht mehr 100% sicher, aber ich glaube auch, dass in dem Text steht, dass viele um eine authentische Selbstdarstellung im Netz bemüht sind, weil eine Darstellung, die von dem wahren Ich zu sehr abweicht, auf Dauer mit hoher Anstrengung verbunden ist, dieses Bild aufrecht zu halten. Man muss ja dann schon genau wissen, welches Bild man vermitteln möchte und wie man das in seine Darstellung, in der Auswahl an Bildern, in seinen Texten usw. rüberbringt. Kleine Schummeleien sind dagegen einfach und die können dann evtl. einen viel größeren Einfluss haben, weil man durch die Vermischung zwischen Netz und Realität laufend Rückmeldungen bekommt, die sich dann auf diese Schummeleien beziehen. Ich hatte auch mal eine Interessante Studie gelesen, wo Studierende über ihre Erfahrungen mit myspace diskutiert haben. Eine Studierende hatte dann erwähnt, dass sie einen bescheidenen Urlaub hinter sich hatte, aber sie hatte zwei drei gute Bilder vom Urlaub hochgeladen und bekam dann durch Kommentar von allen möglichen Leuten Rückmeldungen, wie toll der Urlaub gewesen sein muss, wie neidisch sie waren, dass sie nicht auch haben dort sein können usw. Das habe dann bei der Studentin bewirkt, dass sie den Urlaub dann doch nicht so schlecht empfunden habe. Ein anderer Studierender berichtet ähnliches über sein Profilbild, welches er etwas verfälscht hatte, um größer auszusehen. Ich muss gestehen, dass mir im Moment der Titel und die Autoren entfallen sind, ich muss da meine Unterlage durchsuchen, reiche aber bei Interesse die Quelle gerne nach. Wir selbst haben untersucht, wie sich Feedback in einem Chat auf die Selbsteinschätzung auswirkt. Den Artikel wollen wir demnächst auf netzforschen veröffentlichen. Das interessante war, dass ein negatives Feedback abgelehnt wurde, aber ein positives Feedback sogar mehr mit dem eigenen Selbst übereinstimmend angenommen wurde, als ein neutrales Feedback, was eigentlich der eigenen Selbsteinschätzung entsprach. Da stellt sich bei uns schon die Frage, ob wir uns bei so an die Likes und positiven Kommentare z.B. zu Fotos derart gewöhnt haben, dass wir sie als „richtig“ annehmen. Netzidentität von Forschern? Über den Ansatz habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Mir fällt nur wieder auf, wie schnell doch alles ging. Ich bin jetzt nicht der Älteste und vor genau 2 Jahren habe ich mein Studium beendet. Aber als ich anfing zu studieren, gab es noch Tageslichtprojektoren und die Möglichkeit Literaturrecherche im Netz zu betreiben musste in Seminaren extra durchgespielt werden. Und jetzt könnte zumindest ich mir Forschung ohne Internet nicht mehr vorstellen. Danke für das Ausfüllen des Fragebogens. Als ganz großes langfristiges Ziel wollen wir mehrere Test entwickeln, die konkreten Bezug zu Internet und Sozialen Netzwerken haben, so dass man die bei unterschiedlichen Fragestellungen einsetzen kann. Auf die jetzige Befragung sollen eine Itemanalyse und eine Überprüfung der Dimensionalität folgen. Und wenn der Fragebogen nach den Kriterien steht, ist er freigegeben für alle möglichen Forschungsfragen, die dann auch dabei helfen sollen, den Fragebogen und das Konstrukt dahinter zu validieren. Einen kleinen aber für mich interessanten Effekt wurde mir von einer jungen Dame berichtet, die den Fragebogen ausgefüllt hatte. Sie meinte, danach hätte sie sich wie gewohnt in Facebook eingeloggt, nur auf einmal habe sie angefangen über alles, was sie an die Pinnwand schreiben wollte zu reflektieren. Leider brauchen wir aber noch eine Menge Antworten, wenn wir die Daten mit dem gesetzten Ziel auswerten wollen. Was im Moment fehlt, sind Jugendliche und junge Erwachsene. Ich bin schon dabei befreundete Lehrer anzusprechen, ob man damit nicht mal an Schulklassen gehen könnte. Mal sehen. Und geplant, aber aus zeitlichen Gründen noch nicht umgesetzt, ist, in dem Blog eine Ideenwerkstatt einzurichten. Also eine Art Forum oder Wiki, wo jeder seien Ideen und Erfahrungen und Theorien einbringen kann, damit man gemeinsam dann versuchen kann, diese zu erforschen.

  8. Roman sagt:

    Wegen der Abhängigkeit von Facebook: Auf unsere Facebook Seite hat sich dazu ein Herr Burkhard Tomm-Bub kritisch geäußert. Die Diskussion könnte für Dich vielleicht auch interessant sein.

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