Proof Show: Eine Methode für Mathematikvorlesungen

Veröffentlicht: Freitag, Februar 12, 2010 in Hochschuldidaktik, LdL
Schlagwörter:, ,

Vorbemerkung: Dieser Artikel wird denjenigen, die öfter in meinem Weblog lesen, ein wenig „seltsam“ vorkommen. Es handelt sich dabei um ein „Experiment“. Im nächsten Blog-Artikel werde ich auflösen, worum es dabei geht.

Immer auf der Suche nach aktivierenden Methoden für Vorlesungen habe ich in den letzten Wochen etwas Neues ausprobiert: die „Proof Show“ oder „Beweispräsentation“. Die Idee hierzu bezog ich aus der Cognitive Load Theory und der damit verbundenen Forschung zu worked examples. Die Cognitive Load Theorie nimmt die Begrenztheit des Arbeitsgedächtnisses, in dem bewusste Denkvorgänge stattfinden, in den Blick (Chandler & Sweller, 1996). Diese Kapazitätsbeschränkung sollte bei jeder Instruktion beachtet werden (Sweller et al., 1998; Paas, Tuovinen, Tabbers & van Gerven, 2003). Man unterscheidet drei Formen von cognitive load (CL; Sweller et al., 1998; Kirschner, 2002; Paas et al., 2003): der intrinsic CL bezieht sich auf die Komplexität des Lerninhalts und kann bei gegebenem Inhalt nicht beeinflusst werden (mittlerweile gibt es aber auch erste Ansätze hierfür: siehe Pollock, Chandler & Sweller, 2002; Gerjets et al., 2004; Mayer & Moreno, 2003). Der extraneous CL wird durch eine schlechte Darbietung hervorgerufen. Der germane CL umfasst diejenigen kognitiven Prozesse, die direkt auf das Lernen bezogen sind. Alle drei Formen von CL addieren sich zu einer Gesamtbelastung des Arbeitsgedächtnisses. Ziel jeder Instruktion muss es sein, bei gegebenem intrinsic CL den extraneous CL zu minimieren und den germane CL zu maximieren.

Worked examples sind beispielhafte Lösungen eines Problems bzw. einer Klasse von Problemen (Paas & van Merrienboer, 1994; Atkinson et al., 2000). Diese haben insbesondere in der Mathematik eine große Bedeutung, weswegen bislang auch vor allem Forschung zu mathematischen Lösungsbeispielen betrieben wurde (vgl. Sweller & Cooper, 1985; Scheiter & Catrambone, 2004). Ein besonderer Typ von Lösungsbeispielen sind prozessorientierte Beispiele, also worked examples, in denen der Prozess der Lösens expliziert wird und nicht nur die Lösung an sich (van Gog, Paas & van Merrienboer, 2004, 2006, 2007). Beim mathematischen Beweisen beispielsweise wird der Unterschied sehr deutlich: Nicht der fertige Beweis wird präsentiert, sondern der Prozess des Beweisens (mit all seinen intuitiven Überlegungen, heuristischen Strategien, Irrwegen, Sackgassen, …).

Lösungsbeispiele reduzieren den extraneous CL dadurch, dass der Lernende nicht nach Lösungen suchen muss, sondern Schemata an den gegebenen Lösungen aufbauen kann. Allerdings führt die Präsentation von Lösungsbeispielen nicht direkt zu einem erhöhten germane CL; Lösungsbeispiele werden oft oberflächlich verarbeitet („Illusion des Verstehens“). Mögliche Strategien, Lernende zu einer tieferen Verarbeitung anzuregen, sind Beispielvergleiche (Reed & Bolstad, 1991; Quilici & Mayer, 1996), unvollständige Lösungsbeispiele, sogenannte completion problems (van Merrienboer, 1990; Sweller, van Merrienboer & Paas, 1998) oder Aufforderungen, sich die Lösungen selbst zu erklären (Chi et al.,1989; Stark, Mandl, Gruber & Renkl, 2002).

In meiner Vorlesung Algebra II habe ich diese Theorie nun auf das Verstehen von Beweisen übertragen und in das Konzept Lernen durch Lehren (Martin, 2000, 2002) eingebettet: Die Studierenden finden in dem in der Vorlesung verwendeten Algebra-Buch jede Menge Beweise vor. Die Gefahr beim Lesen dieser Beweise ist aber, dass man sie nur oberflächlich versteht und denkt, man hätte sie verstanden. Dieses Problem versuche ich durch folgendes Szenario zu vermeiden: Die Studierenden setzen sich 10 Minuten lang in kleinen Gruppen zusammen und versuchen, sich einen Beweis Schritt für Schritt selbst zu erklären. Das Ziel dieser Phase ist, dass jeder aus der Gruppe fähig sein muss, diesen Beweis der gesamten Gruppe an der Tafel vorzustellen und zu erklären, und zwar als prozessorientiertes Lösungsbeispiel (also mit der Explikation dessen, welche Strategien angewendet werden, was dabei „gedacht“ wird). Anschließend kommt aus jeder Gruppe eine Person an die Tafel und führt dem Rest  den Beweis vor („Proof Show“).

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Studierenden hierdurch Beweisschritte hinterfragen, die sie sonst vielleicht nicht hinterfragt hätten (ist eine Vermutung), und dass Studierende sich auch nicht scheuen, während einer Präsentation bei Unklarheiten nachzufragen. Insgesamt habe ich das Gefühl, dass dies wesentlich mehr Verständnis bringt, als wenn ich die Beweise präsentieren würde. Im nächsten Semester werde ich auf jeden Fall versuchen, diese Methode weiter auszubauen.

Kommentare
  1. „Der extraneous CL wird durch eine schlechte Darbietung hervorgerufen.“
    – Literatur?
    „Lösungsbeispiele reduzieren den extraneous CL dadurch, dass der Lernende nicht nach Lösungen suchen muss, sondern Schemata an den gegebenen Lösungen aufbauen kann.“
    – Klingt apodiktisch. Gibt es dazu konkrete Untersuchungen? Es könnte sein, dass der Lernende die Beispiele gar nicht akzeptiert. War wäre dann? Dann wäre der extraneous CL doch erhöht, oder?
    „oder Aufforderungen, sich die Lösungen selbst zu erklären (Chi et al.,1989; Stark, Mandl, Gruber & Renkl, 2002).“
    – Klingt interessant!
    „Ich habe die Erfahrung gemacht“
    – Das ist aber kein Beleg! Ein paar Daten – auch qualitative Erhebungen – würden ausreichen.
    „Insgesamt habe ich das Gefühl“
    – Dito.

  2. Literaturtipp zu effektivem Einsatz kooperativer Lernformen, den ich heute in ähnlichem Zusammenhang schon bei Ilona Buchem – http://ibuchem.wordpress.com/2010/02/12/kollaboratives-lernen/#comments – hinterlassen habe: “Erfolgreich unterrichten durch Kooperatives Lernen” von Ludger Brüning und Tobias Saum

  3. Jonathan sagt:

    Der Christian, immer öfter mal was Neues … 😀

  4. ixsi sagt:

    „Aufforderungen, sich die Lösungen selbst zu erklären“ -> Der Beweis sei dem geneigten Leser überlassen 😉

    Ich finde die Idee, Beweise erklären zu lassen und die Strategie zu hinterfragen ganz toll. Als Tutor habe ich die Erfahrung gemacht, dass Beweise ohne Sinn und Verstand (also mit allen Beweislücken) abgeschrieben wurden und sich die Studenten bei der Zettelrückgabe noch beschwerten, dass ich nur Teilpunkte gegeben habe, weil der Beweis doch richtig sei. Aber erst die Frage, warum man beim Beweis diesen Weg geht und ob man noch andere Wege nehmen könnte, das ist doch ein Hauptanliegen des Mathematikstudiums.

    Ich bin gespannt, wie es weitergeht!

  5. […] mir mal den Spaß gemacht, einen Weblog-Artikel zu schreiben, den ich so nie geschrieben hätte: Proof Show – eine Methode für Mathematikvorlesungen. Dort habe ich Theorie noch und nöcher reingepackt, einfach mal zu übertreiben und zu […]

  6. Andreas sagt:

    Ich denke zur Gruppe von Strategien, die eine bessere und tiefere Verarbeitung ermöglichen, gehört auch die Analyse von fehlerhaften Beispielen, oder?

    Meine Behauptung ist, dass durch Überlegungen wie: „Was ist der Fehler?“, „Warum ist das ein Fehler?“ und die Korrektur der Aufgaben, erzwingen eine tiefere Verarbeitung.

    Generell denke ich, dass es vorteilhaft wäre ab und zu nicht nur richtige Vorgehensweisen in den Fokus zu nehmen, sondern sich auch mit Fehlern und Fehlerstrategien zu beschäftigen um den Umgang mit Fehlern zu erlernen bzw. in der Klasse zu besprechen.

    Gruß Andreas

  7. cspannagel sagt:

    Danke euch allen für die Kommentare!

    @jeanpol Vielen Dank für die Weiterführung der Persiflage! 🙂

    @Andreas Klar, du hast völlig recht: Auch fehlerhafte Beweise analysieren wäre gut. Das muss ich mal ausprobieren…

  8. Timo sagt:

    Spannende Idee für eine Vorlesung.
    ein paar kurze Nachfragen: Hast du die Zeit und die Freiheit, so zu unterrichten zu tun und dafür andere Dinge auszulassen? Lässt du andere Themen für diese zeitintensivere Vermittlung beiseite?
    Verändert sich durch diese Methode dein Blick auf das, was die Studenten können und wissen müssen am Ende von Algebra?
    Gibt es eine Parallelvorlesung, die nicht so vorgeht? (als „Kontrollgruppe“ quasi)
    Wie viele n Gruppen sind es und führt jede Gruppe den Beweis vor? d.h. hören die Teilnehmer den Beweis nach der 10min-Besprechungsphase einmal oder n-mal?

  9. @Cspannagel
    Bitte. Ich persifliere für mein Leben gerne!:-)))

  10. Beim nächsten mal werde ich bei jedem satz von mir hoch einen persifelemoticon dazu setzen. :-))((-: (oder so etwa…)

  11. Sigi sagt:

    LOL.. hab mich köstlich amüsiert aber: Die Gesamtbelastung des Arbeitsgedächtnisses war denn auch bald erreicht. Gut gemacht 🙂

  12. Also ganz klar: Das ist nicht das, was wir in einem blog lesen möchten. Danke, dass du das noch mal demonstriert hast. Damit beweist du auch, dass der wissenschaftliche Diskurs in Zeitschriften und auf Konferenzen nicht durch Blogs ersetzt sondern ergänzt wird.

    Es ging aber auch um die Kommentar-Kultur. Und da muss ich zugeben, dass ich die „Finde ich auch“ oder „Ganz toll das“-Kommentare oft sehr dünn finde. Nicht immer – ganz klar: Hinweise auf andere Literatur, URLs, etc. sind wichtig und lesenswert.

    Das ist meiner Meinung nach (sic!) durch das Medium blog bedingt: Die Kommentarfunktion macht es einfach, kurze Statements abzugeben, aber es ist schwierig, hier reflektiert zu antworten. Das liegt nicht nur am User-Interface (eine Texteingabebox ohne sonstige Hilfsmittel), sondern auch an der Geschwindigkeit. Kommentare auf Blogposts müssen schnell gemacht werden, man hat nicht die Zeit, nach 5 Tagen eine gut reflektierte Antwort zu erstellen.

    Aber das ist ja auch egal, denn Blogs ersetzen nichts, sondern ergänzen. Und wenn man schnell lesen kann (*das* halte ich für eine wichtige Aufgabe der Schule, dies zu lehren), dann stören auch die „doofen“ Kommentare nicht.

  13. cspannagel sagt:

    @Timo Ja, ich habe mehr oder weniger Freiheit. Ich kann mir überlegen, was mir persönlich in der Algebra wichtig ist und was nicht. Ich lege dabei besonderen Wert auf Prinzipien und Prozesse (Beweisen, Argumentieren, …) und weniger auf inhaltliche Details (kein Mensch muss wissen, was ein Integritätsring ist). Inhaltlich ist mir wichtig, dass Studierende verschiedene Strukturen (Halbgruppe, Gruppe, Ring, Körper) kennen (wegen der Zahlbereichserweiterung und der Lösbarkeit von Gleichungen) und was es bedeutet, dass zwei Strukturen strukturgleich sind. Details können oft zurücktreten: Ich gebe dem Beweisen mehr Raum als der Anhäufig inhaltlicher Details. Ich lege den Fokus auf das aus meiner Sicht eigentlich Wichtige – das „Mathematik treiben“; das kommt sonst oft zu kurz.

    Es gibt keine Parallelvorlesung.

    Das Ganze läuft folgendermaßen ab (hab ich zu ungenau beschrieben): Die Studierenden lesen in Vorbereitung auf eine Sitzung ein paar Seiten im Buch (Göthner). Auf diesen Seiten kommen z.B. 5 Beweise vor. In der Sitzung werden die Studierenden in 5 Gruppen eingeteilt. Jede Gruppe kümmert sich dann um einen Beweis. Anschließend werden nacheinander die 5 Beweise vorgeführt. Es würde natürlich keinen Sinn machen, einen Beweis 5 mal vorzuführen.

    Das ganze Vorgehen hat folgenden Vorteil: Die Studierenden kennen alle die Beweise schon durch die Vorbereitung, aber unter Umständen nur „oberflächlich“. In der Gruppe durchdenken sie dann einen Beweis ordentlich. Durch die Vorführungen in der Stunde werden dann alle Beweise ausführlich besprochen. Ich als Dozent merke dann auch, an welchen Stellen noch Verständnisprobleme sind und kann diese dann nochmals aufgreifen und erläutern.

    @Jean-Pol naja… perisifelemoticon? Der Witz bei Persiflagen ist ja gerade, wenn Leute das nicht mitbekommen. 🙂

    @Ulli Zu den kurzen Kommentaren: Ich finde auch kurze Kommentare haben einen Wert. Als Blogautor weiß man dann: Der Artikel wurde gelesen, und der Leser hat zunächst mal nix dran auszusetzen. Ich finde das motivierend.

  14. „…Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Studierenden hierdurch Beweisschritte hinterfragen, die sie sonst vielleicht nicht hinterfragt hätten (ist eine Vermutung), … „Zumindest mir ging es in der Algebra II Vorlesung so und ich kann von meiner Seite aus die Vermutung unterstreichen. Man merkt auf einmal, dass der Beweis doch nicht so verstanden wurde wie zu anfangs angenommen. Fragen tauchen auf, die man sich sonst nie gestellt hätte. Nach meinem Empfinden ging es auch weiteren Kommilitonen so.

    Freue mich schon auf die „ausgebaute“ Fortsetzung der Proof Show :-)!

  15. apanat sagt:

    @Ulli Kortenkamp: Ich habe wegen der Nachteile der Kommentarfunktion schon des öfteren einen Kommentar zu einem Blogartikel ausgebaut, in dem ich die nötigen Verweise und nachträglichen Verbesserungen einbrigen kann. Nachteil, es wäre höchst aufwändig, ein Link zu diesem Artikel in den Kommentar einzubauen. Denn wer schreibt schon den Artikel vor dem Kommentar.

  16. […] herauskommen kann), dann bei einigen Beforschten wie Sandra, Christian (ergänzend dazu der Beitrag hier), Joachim Wedekind, Jochen Robes, Gabi Reinmann, Michael Kerres. Eine Stellungnahme von Peter […]

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..