Mit ‘vorlesungsvideos’ getaggte Beiträge

Hat ein ehemaliger Offizier der Bundeswehr, der jetzt Mathematik studiert, einen speziellen Blick auf sein Studium? Stephan Goldammer schaut durch den universitären Pulverdampf. Schon seit längerer Zeit beschäftigt er sich mit dem Thema eLearning, und zur Ergänzung für sein vor Ort stattfindendes Studium nutzt er Vorlesungsvideos aus dem Internet. Vor einiger Zeit hat Stephan eine Mail mit zahlreichen Ideen an mich gesendet. Ich habe ihn gefragt, ob er diese Ideen nicht als Gastblogbeitrag verfassen möchte. Und was soll ich sagen: Oberleutnant Goldammer erstattet Lagebericht! Jetzt heißt es: Still gestanden! 🙂

Wir schreiben das Jahr 2063. Dank eLearning sind schlechte Vorlesungen ausgestorben und nur noch im Museum zu finden. Historiker berichten über vergangene Zeiten, über monotone, langatmige Vorträge, unverständliche Folien und verworrene Präsentationen, aber man kann es nicht glauben. So habt ihr früher studiert? Wie habt ihr das ausgehalten?

Zurück in die Gegenwart. Erste Abschnitte auf der eBaustelle sind fertig, aber ein nüchterner Blick reicht, um zu sehen: Bis zum Paradies ist es noch weit. Viele Fragen sind offen. Kann man durch eLearning aus einer schlechten eine gute Vorlesung machen? Kann technisch intelligent konstruiertes eLearning zu einer fortwährenden, automatischen Verbesserung der Lehre führen? Kann eLearning die Basis für lebenslanges Lernen schaffen, und wie kann die Politik hilfreiche Unterstützung leisten? Einige Antworten auf diese Fragen mögen vielleicht als Spinnerei erscheinen, könnten aber schon bald Wirklichkeit werden. Die helle Seite der dunklen Seite, ein bisher gänzlich unbekannter Prof. Spinnagel, hat mich gebeten, mal auf den synaptischen Putz zu hauen und allen Spinnereien freien Lauf zu lassen.

eVorlesung: Wahrscheinlich wird es an der Hochschule vorerst auf das Modell „Klassische Vorlesung plus Videoaufzeichnung“ hinauslaufen. Lehrmethoden wie die umgedrehte Vorlesung werden dem Großteil der Dozenten wohl noch zu exotisch sein. Der Dozenten-Tanker hat gern ruhiges Fahrwasser und bewegt sich nicht so schnell. Vorteil der (rein passiven) Videoaufzeichnung: Der Vortragende braucht erst einmal gar nichts zu ändern (psychologisch geschickt), bekommt aber über Jahre hinweg beweiskräftiges Feedback (Kollegen, Studenten, Externe, YouTuber, Klick-Rankings) und kann dann nach und nach sich und seine Vorlesung anpassen. „Der X aus Y erklärt das aber viel besser!“, dürfte wohl keinen Dozenten kalt lassen. Fehlerhafte Begriffsverwendungen oder schwammige, ungenaue Definitionen im jeweiligen Fachgebiet fallen viel leichter auf (und würden möglicherweise als lange mitgeschleppter „Ballast“ abgeworfen). Steter Tropfen höhlt den Stein, so gesehen kann ein sanft vor sich hin plätschernder Strom aus Online-Kommentaren hilfreicher sein als der gute alte pädagogisch-ballistische Ratschlag. Hält ein Dozent auch dieses Feedback in homöopathischen Dosen nicht aus, bleibt ihm natürlich der psychologische Notausgang: Stecker raus.

FAQ: Die folgende Idee stelle ich mir vor wie einen Feedback-Regelkreis, der sich selbst steuert und verbessert. Für jedes Vorlesungsvideo wird ein Frage-Button angeboten. Dadurch wird man direkt mit einem Chatpartner (Tutor) verbunden, der die Frage live beantwortet (eine Art 24-h-Hotline). Der Tutor formuliert anhand aller eingehenden Fragen eine FAQ-Liste. Diese wird unter dem Video zur Verfügung gestellt, wodurch die häufigsten, immer wiederkehrenden Fragen direkt beantwortet werden. Am Ende des Semesters schaut der Professor über die FAQs und versucht diese offenen Fragen in die Vorlesung mit einzubauen und zu beantworten. Im Idealfall würde nach endlich vielen Durchgängen die (aus Studentensicht) perfekte Vorlesung herauskommen.

Feedbackstatistik: Die nächste Idee ermöglicht eine einfache und effiziente Auswertung einer Videoaufzeichnung. Für jedes Vorlesungsvideo werden zwei Buttons angeboten: ein roter und ein grüner oder wahlweise auch die Tasten Plus und Minus. Sobald der Student die Erklärungen des Dozenten nicht versteht, kann er den roten Button drücken. Versteht er etwas besonders gut (Aha-Effekt), kann er Grün drücken. Im Unterschied zu einer normalen Bewertung, wie sie bei YouTube oder Facebook üblich ist („Gefällt mir“), kann man diesen Button über die gesamte Laufzeit des Videos mehrmals drücken. Die Daten werden statistisch ausgewertet. Ein roter Peak würde auf eine besonders unverständliche Erklärung hinweisen. Der Dozent kann sich dann überlegen, warum viele Studenten an dieser Stelle des Videos seine Erklärungen nicht verstehen. Das Diagramm zum Auswerten wäre sehr einfach aufgebaut: Die Laufzeit des Videos wird verbunden mit unterschiedlich hohen grünen und roten Balken, fertig. Erlaubt man auch Studenten eine Einsicht in das Diagramm, wäre es möglich zu sehen, dass man nicht der Einzige ist, der genau an dieser Stelle „nichts versteht“.

Verdrehung: Im Kontext von Online-Vorlesungen entscheidet nicht mehr der Dozent, ob er gut erklären kann, sondern der Student. Prof. X aus Dortmund kann gut Mengenlehre vermitteln, ist aber schlecht im Erklären von Logik. Bei Logik ist Prof. Y aus Hamburg gut im Erklären, der hat aber wiederum in Algebra seine Schwächen. So kann sich jeder Student seinen Online-Vorlesungsbaukasten zusammenstellen. Vielleicht bildet sich auch eine „Hall of Fame“ der besten Videos. Die Prüfungen bleiben natürlich gleich (schwer), wie gehabt. Die fachliche Kompetenz des Dozenten steht außer Frage, aber ob jemand erklären kann, kann letztlich nur der Zuhörer feststellen. Leider ist der Schüler heute (noch) an den „kann-nicht-gut-erklären“ Lehrer gefesselt. Lehrer wechseln impossible => Frust beim Schüler. Wenn alle Vorlesungen und Unterrichtseinheiten im Netz stehen, kann der Schüler direkt evaluieren, wer es am besten erklärt. Ein Student kann nicht fünf Jahre warten, bis die üblichen, bürokratischen Evaluierungsprozesse minimale Veränderungen bewirken (wenn überhaupt). Diesen Aspekt von eLearning könnte man Flipped-Evaluation nennen. Flipped deshalb, weil der Schalter umgelegt wird von (fast) unwirksamer zu wirksamer Evaluation. Sich wirksam zu fühlen ist ein wichtiger Faktor der Motivation. Lassen wir doch den Deckel entscheiden, welcher Topf ihn begeistert. Fünf Jahre didaktische Kohlsuppe schmeckt nicht jedem.

Zeit: Ein neues Axiom in der Bildung. Schüler und Lehrer müssen sich nicht zeitgleich treffen. Man könnte noch weiter gehen: Der Lehrer muss im Prinzip gar nicht mehr am Leben sein. Eine Vorlesung von Hilbert, Einstein oder Turing wäre auch heute interessant. Wenn Verstorbene eine bestimmte Sache besonders gut erklären können, werden auch alte Vorlesungen nützlich sein. (Einschub: Wo gibt es eigentlich die älteste auf Video aufgezeichnete Vorlesung?) Durch eLearning muss der Schüler seine Konzentrationsfähigkeit nicht mehr an den Rhythmus des Lehrers oder an den Mittelwert der Klasse anpassen. Jeder lernt in seiner eigenen Geschwindigkeit und seiner eigenen Zeit. Die zeitliche Entkoppelung von Lehrer und Schüler verhindert, dass Schüler nach zehn Minuten Mathematikunterricht gedanklich aussteigen, weil sie den Erklärungen nicht mehr folgen können. Online kann ich den Informationskuchen in kleine Häppchen zerteilen, bei der Vorlesung im Hörsaal fliegt mir eine Informationstorte ins Gesicht. eLearning ist, was verhindert, dass alles auf einmal passiert.

Methode: Welches die geeignete Lehrmethode ist, werden die Zuseher (online) wahrscheinlich schneller entscheiden als man mit Studien und Forschung hinterherkommt. Vorschlag: Eine einzelne Standard-Grundlagenvorlesung („Vollständige Induktion“) wird mehrfach aufgezeichnet. Sie bleibt dabei fachlich und inhaltlich gleich, aber die Lehrmethode wechselt. Über die Klickzahlen oder Kommentare könnte man herausfinden, welche Methode besonders gerne angenommen wird. YouTube als Online-Labor der Pädagogik. Dieser Ansatz könnte nutzbringende Erkenntnisse liefern, bei Teilen der pädagogischen Forschung habe ich dagegen den Eindruck, sie gibt Antworten auf Fragen, die keiner mehr stellt. Ich würde mir wünschen, dass man die didaktische Widerlegungshoheit (im Popperschen Sinne) in die Hände der Schüler und Studenten legt. War es gut oder schlecht erklärt, falsifiziert der Student, nicht der Dozent. Oh, rüttle ich hier gerade an einem Grundpfeiler? 🙂 Mit eLearning bekommt der Student wirksame Mittel, um seine Lebenszeit nicht in aus didaktischer Perspektive mittelalterlich anmutenden Vorlesungen absitzen zu müssen. Wer schlecht erklärt, wird weggeklickt, wer gut erklärt, wird angeklickt. Wenn wir in der Universitätsbibliothek ein unverständliches Buch aus dem Regal ziehen, legen wir es zurück und nehmen ein besseres. Bald wird es mit Vorlesungen ähnlich sein.

Prüfung: Ein weiterer Forschungsansatz wäre, vor einer Prüfung die Studenten zu fragen, welche Dozenten und Lehrmethoden sie (zusätzlich zur normalen Vorlesung) im Netz genutzt haben. Im Anschluss analysiert man, wie die Angaben mit den Prüfungsnoten korrelieren. Auf die Ergebnisse wäre ich sehr gespannt.

Wunschvorlesung: Einmal pro Jahr dürfen Studenten (oder Externe) eine Wunschvorlesung wählen. Man stellt (sehr viele) Themen zur Auswahl und lässt abstimmen. Man könnte hier auch neue methodische Konzepte ausprobieren und danach das Feedback auswerten.

Mathematikvorlesung: Ein unkonventioneller Einstieg in die (wissenschaftliche) Mathematik könnte „Die formelfreie Mathematikvorlesung“ sein. Thema: „Warum ist die Mathematik axiomatisch aufgebaut?“ Es geht also um die interessante Frage: „Wo ist der Urknall der Mathematik … und was war davor?“ oder „Wie gebe ich einem besorgten Studenten die Sicherheit, dass das Fundament der Mathematik tragfähig ist?“ – „Machen wir seit 3000 Jahren so, ist bisher immer gut gegangen!“ zählt nicht. 🙂 Im Schulunterricht ist man immer „mittendrin“ in der Mathematik (Bruchrechnen, Addition, Differentialrechnung), aber es wird nicht erklärt, wo der Anfang ist, an dem alles „losgeht“. Und die noch spannendere Frage, was vor dem Anfang war, wird leider auch nicht beantwortet. Ist das Gebäude der Mathematik auf Sand oder auf Beton gebaut? Sind die Axiome fest genug, um Einsturzsicherheit zu gewährleisten? Solche Gedanken könnte man in diese Vorlesung hineinbringen. Hier kann ich mir auch eine interessante Diskussion im aktiven Plenum vorstellen.

Edelstein: Online-Vorlesungen werden zu einer öffentlichen Visitenkarte des Dozenten. Sicher für viele ein Ansporn, sich zu verbessern. Die Vorlesung als ein Edelstein, der ständiger Pflege und Verbesserung bedarf, um in den Augen der anderen zu funkeln. Zeige mir deine Online-Vorlesung und ich sage dir, wer du bist. Eine wissenschaftliche eVorlesung bleibt dabei der wichtige, feste Anker im großen Online-Meer aus Halb- und Viertelwissen.

Wikipedia: Wissenschaftler an der Hochschule könnten durch Wikipedia ihre Erkenntnisse (leicht zugänglich) an die Allgemeinheit weitergeben. Den Elfenbeinturm hochzulaufen, um persönlich das Wissen abzuholen, ist für viele Menschen zeitlich nicht möglich. Vorschlag: An einem Tag im Jahr wird an der Hochschule der „Wikipedia-Tag“ veranstaltet. An diesem Tag werden alle wissenschaftlichen Mitarbeiter und Professoren gebeten, freiwillig ihr Wissen in die Wikipedia zu tippen. Wenn genügend Hochschulen mitmachen, würde das Niveau von Wikipedia enorm steigen und alle können daran teilhaben. Gehen wir noch einen Schritt weiter: Warum nach Weltspartag, Weltfrauentag & Co. nicht auch einen Weltwikipediatag einführen?

Grundeinkommen: Seit zwei Jahren setze ich mich mit der Thematik „Bedingungsloses Grundeinkommen“ auseinander. Für Studenten würde sich einiges ändern, da BAföG, Studienkredite, Büchergeld (und anderer bürokratischer Kleinkram) wegfallen und (für alle) durch ein lebenslanges (bescheidenes, aber menschenwürdiges) Grundeinkommen ersetzt werden würden. Das Grundeinkommen ist ein finanzieller Sockel, der (ohne Bürokratie, ohne Formulare) lebenslang nicht unterschritten werden kann. Es ist die unbefristete, unkündbare Stelle im Leben. Lebenslanges Lernen wäre dann nicht nur ein politisches Motto, sondern wirklich umsetzbar. Ohne existenzielle Ängste kann Lernen und Ideenteilen richtig Spaß machen. Finanzierbar ist das Grundeinkommen, weil es nicht obendrauf kommt, sondern in bereits bestehende Einkommen integriert wird.

Wer von der ganzen Spinnerei gestresst ist, entspannt sich hier oder hier.

Um es mit Douglas Adams zu sagen: „Dozenten haben mit 42 die Antwort, aber die Berechnung der Frage liegt bei den Studenten.“ Diese erhalten durch eLearning ein demokratisches Verfahren, entscheiden aber nicht über den fachlichen Inhalt (Algebra bleibt Algebra), sondern über das Erklärpotenzial. Aber funktioniert ein Konzept, in dem Studenten auf einmal Nein sagen können? Gärt es tief in der Dozentenseele, wenn die seit 30 Jahren gleich gehaltene Vorlesung (didaktisch auf dem Stand von vor 300 Jahren) online keiner mehr aushält, weil sie noch nie jemand ausgehalten hat?

Kommando von dunkelmunkel: „Rührt Euch und Wegtreten in den Kommentarbereich!“