Ich schulde Michael und euch schon länger eine Antwort auf Michas Beitrag Nicht flippig genug zu seiner Kritik am Einsatz des Flipped Classroom im Mathematikunterricht der Sekundarstufe I. Es war viel los in den letzten Monaten. Das Prorektorat für Forschung, Medien und IT an unserer Hochschule lässt mir wenig Zeit für anderes, und ich achte seit längerem auch auf eine ausgeglichene Work-Life-Balance. Doch genug der müden Entschuldigungsversuche, es wird langsam Zeit zu antworten. Ich hab mir heute die Zeit genommen, ein paar Gedanken aufzuschreiben, die mir schon lange auf dem Herzen liegen. Los geht’s.
Keine Methode ist eine Super-Methode
Zu Beginn ein paar grundsätzliche Überlegungen zu Unterrichtsmethoden: Flipped Classroom ist nicht die beste Methode, und auch nicht grundsätzlich besser als andere Methoden. Das gilt für alle Methoden. Unterricht – egal ob an der Schule oder Hochschule – ist zu komplex, als dass man so einfache Aussagen treffen könnte wie „Flipped Classroom ist besser als Methode X“. Entscheidend ist der Kontext: Die Klassenstufe, das Fach, der Inhalt, die zu erlernenden Kompetenzen, das Klassenklima, die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Klasse (und letztlich jedes einzelnen Schülers bzw. jeder einzelnen Schülerin), die pädagogische, fachliche und fachdidaktische Kompetenz der Lehrperson, die Uhrzeit, das Wetter, die Reichhaltigkeit des Frühstücks vom Vormittag. Bitte beliebig ergänzen. Alle zu berücksichtigenden Kontextfaktoren ergeben zusammengenommen einen multidimensionalen Raum, in dem man ziemlich viele verschiedene Unterrichtskontexte verorten kann. Im einen Kontext ist Methode A besser, im anderen Methode B. Unter anderem braucht es daher Lehrer/innen, die mit all ihrem Wissen und ihrem Einfühlungsvermögen eine passende Methode für den entsprechenden Kontext auswählen. Ansonsten hätten wir schon längst computergesteuerte Unterrichtssettings, und Versuche in dieser Art sind ja bekanntlich schon mehrfach erheblich gescheitert. Gedankenspiel: Wenn wir den absolut gleichen Klassenkontext haben und nur eine Variable verändern, kann das schon bedeuten, dass eine Methode nicht mehr funktioniert und eine andere besser ist. Gleicher Kontext, andere Lehrperson: andere Methode. Gleicher Kontext, anderes Klassenklima: andere Methode. Das bedeutet nicht, dass fachdidaktische Überlegungen zur Eignung einer Methode für einen bestimmten Inhalt überflüssig sind, im Gegenteil: Fachdidaktik liefert wichtige Argumente für oder gegen den Einsatz eines methodischen Vorgehens. Diese Argumente muss man kennen – um sich dann begründet für oder gegen eine Methode entscheiden zu können, je nach Kontext.
Eine Methode ist nur eine Methode
An dieser Stelle möchte ich etwas zu meiner persönlichen Einstellung zum Flipped Classroom sagen. Kann man überhaupt eine Einstellung zu Methoden haben? Das kommt mir komisch vor. Methoden sind doch nur Methoden. Trotzdem habe ich den Eindruck, mir wird eine unterstellt. Ich sei ein „Verfechter“ der Methode, ich sei ein „Protagonist“ oder gar ein „Missionar“. Das empfinde ich nicht so. Ich setze die Methode in meinen eigenen Vorlesungen ein und habe sie dort für mich weiterentwickelt. Ich habe Erfahrungen gesammelt, über die ich gebloggt habe, und ich habe ein Gespür dafür entwickelt, was funktioniert und was nicht. Das alles teile ich in Vorträgen und Workshops mit, wenn ich die Methode vorstelle. Und ich stelle dabei immer heraus, dass Flipped Classroom nicht die beste Methode ist und ich nicht falsch verstanden werden will: Ich präsentiere die Methode immer mit all ihren Vor- und Nachteilen. Mein Ziel in Vorträgen ist, die Methode vorzustellen, damit die Zuhörer/innen sich anschließend für oder gegen die Methode entscheiden können und dafür Argumente haben. Wenn ich Workshops gebe, dann lasse ich die Teilnehmer/innen überlegen, wie man die Methode auf ihren eigenen Kontext übertragen könnte und ob das überhaupt sinnvoll ist. Und nicht selten kommt dabei heraus, dass die Methode in diesem oder jenem Kontext wahrscheinlich nicht geeignet ist.
Genauso wenig bin ich übrigens ein Verfechter des Einsatzes digitaler Medien und ich halte digitale Medien auch den analogen nicht grundsätzlich für überlegen (Irrtum Nr. 6). Ich unterstreiche dabei immer das Wörtchen grundsätzlich. Manchmal sind sie es, manchmal nicht. Es kommt eben auf den Kontext an.
Lehrpersonen müssen sich begründet für eine Methode entscheiden können. Dazu müssen sie verschiedene Methoden kennen. Ich stelle Flipped Classroom vor, damit sie eine weitere Methode kennen, für oder gegen die sie sich entscheiden können. Axel Krommer schreibt in seinem Kommentar zu Michas Blogbeitrag: „Ich finde es großartig, dass Christian Spannagel auf seinem Blog die Bühne für eine Fundamentalkritik des Flipped Classrooms bereitet und damit zu erkennen gibt, dass ihm vor allem die Sache und nicht persönliche Interessen am Herzen liegen.“ Das ist zwar sehr nett von Axel formuliert, aber gewundert habe ich mich trotzdem ein bisschen: Ich dachte eigentlich, die ganze Zeit über schon zu erkennen geben zu haben, dass mir die Sache am Herzen liegt.
Bestimmt kommt der Eindruck, ich sei ein „Verfechter“, daher, dass ich anfangs sehr euphorisch über den Flipped Classroom in meinen eigenen Vorlesungen berichtet habe. Ich bin also vielleicht selbst schuld, dass ich anfangs überwiegend die Vorteile herausgestellt habe. Ich hielt die Methode für eine großartige Bereicherung für meine Vorlesungen und für eine tolle Entdeckung. Das ist aber schon fünf Jahre her (O Gott, ich werde alt!), und mittlerweile hat sich doch einiges getan. In diesen Jahren gab es genug Anlässe, die Methode tiefer zu durchdenken und Vor- und Nachteile zu erörtern. Einige dieser Anlässe führe ich jetzt im Folgenden an und gehe dabei auch auf Michas Blogbeitrag ein (wird auch Zeit!). Ein kurzes Fazit schon vorab: Micha liefert sehr gute mathematikdidaktische Argumente (die mir nicht neu sind und die ich mir auch schon länger zu eigen gemacht habe, mehr unten). Diese Argumente musst jeder Mathematiklehrer und jede Mathematiklehrerin kennen. Allerdings teile ich nicht die Position, dass damit der Flipped Classroom für den Mathematikunterricht in der Sekundarstufe I grundsätzlich ungeeignet ist. Es gibt Kontexte, in denen passt er nicht (und solche beschreibt Micha), und es gibt Kontexte, in denen passt er. Wir sollten also keine Positionen für oder gegen die Methode einnehmen, sondern sachlich überlegen, wo sie passt. Fundamentalkritik ist für mich genau so zweifelhaft wie Missionarstätigkeit.
Im Folgenden möchte ich meine Antwort auf Michas Beitrag anhand von drei Argumenten strukturieren. Diese sind:
- Fachdidaktisches Argument: Mathematikunterricht ist nicht nur Begriffslernen
- Professionalisierungsargument: Flipped Classroom als Türöffner
- Implementierungsargument: Methoden können gut oder schlecht umgesetzt werden
Ich beginne mit dem fachdidaktischen Argument:
Fachdidaktisches Argument: Mathematikunterricht ist nicht nur Begriffslernen
Micha bezieht sich in seinem Beitrag inhaltlich im Wesentlichen auf Begriffslernen. Aus fachdidaktischer Sicht ist es wesentlich besser, Schülerinnen und Schüler zu Beginn mit Beispielen und Gegenbeispielen arbeiten zu lassen und dabei die Eigenschaften eines Konzepts selbst zu entdecken, als ihnen eine Definition des Konzepts vorzugeben. Man gebe ihnen Vierecke, von denen einige Parallelogramme sind und einige nicht, und lasse diese von den Schüler/innen zunächst einmal sortieren. Anschließend kann man mit ihnen besprechen, warum sie die einen Vierecke zusammengepackt haben und die anderen nicht. Die Schüler/innen müssen dann versuchen zu begründen, warum diese Vierecke „zusammenpassen“ und arbeiten dabei selbst die Eigenschaften eines Parallelogramms heraus. Sie haben durch den Sortiervorgang die definitorischen Eigenschaften von Parallelogrammen selbst durchdrungen, zunächst intuitiv, dann wird das (gemeinsam und angeleitet) versprachlicht. So sieht verständnisorientierter Mathematikunterricht aus, wenn Begriffe erarbeitet werden. Micha hat vollkommen Recht.
Es gibt aber noch andere Lernziele im Mathematikunterricht als Begriffe zu lernen. Ein weiterer wichtiger Bereich ist Problemlösen. Problemlösen an sich ist schon ein vielschichtiges Konzept, das unterschiedlich verstanden wird. Im Folgenden beziehe ich mich nicht auf das Lösen offener Probleme (auch wichtig), sondern auf das Lösen einer Klasse von Probleme, für die es ein Verfahren gibt. Ein Beispiel hierfür ist das Lösen linearer Gleichungssysteme, für das mehrere Lösungsverfahren existieren (Einsetzungs-, Gleichsetzungs- und Additionsverfahren). Diese Art des Problemlösens entspricht ziemlich genau dem, was Psycholog/inn/en unter Problemlösen verstehen: Es gibt einen Ausgangszustand (Gleichungen), einen Zielzustand (Lösung), und ich lerne ein Verfahren, wie ich vom Start- zum Zielzustand gelange. Ich beginne beim Ausgangszustand, entscheide mich für Verfahren (je nach Situation), und versuche dabei, sukzessive zum Zielzustand zu gelangen. Es gibt ein ganzes Forschungsgebiet in der Psychologie zum Problemlösen, das auch die Mathematikdidaktik aufgegriffen hat: worked examples, zu deutsch Lernen mit Lösungsbeispielen. Grundprinzip: Ich zeige das Verfahren zunächst an einem Lösungsbeispiel. Die Schülerinnen und Schüler übertragen das Verfahren anschließend auf ähnliche Probleme (d.h. auf vorgegebene Ausgangszustände). Ein Übergangsformat sind completion problems, bei denen die Schüler/innen zunächst nicht nur den Ausgangszustand erhalten, sondern als Hilfe bereits eine Teillösung, die sie vervollständigen müssen. Das Lernen mit Lösungsbeispielen ist bestens erforscht. Es gibt zahlreiche Arbeiten im Gebiet der Cognitive Lead Theory darüber, wie worked examples gestaltet sein müssen. Es wurde der expertise reversal effect entdeckt, der besagt, dass insbesondere Novizen von Beispielen profitieren. Summa summarum kann man den Forschungsstand folgendermaßen zusammenfassen: worked examples sind ein effizientes und effektives Format, mit dem Anfänger/innen in einem bestimmten Bereich das Lösen eines Problems einer bestimmten Klasse von Problemen lernen können. Sehr passend dazu ist auch das cognitive apprenticeship model (deutsch: Modell der Kognitiven Meisterlehre), das am klassischen Handwerk ansetzt und dieses auf kognitive Problemlöseprozesse überträgt. Wenn ein Schneiderlehrling lernen soll, ein Hemd zu schneidern, wird der Meister ihm zunächst das Verfahren vorführen (worked example, Lernen am Modell). Bei kognitiven Prozessen, wie man sie in der Mathematik findet, muss der „Meister“ dabei seine Gedanken externalisieren, damit der „Lehrling“ sie auch mitbekommt (daher kognitive Meisterlehre). Anschließend geht der Lehrling selbst ans Schneidern. Vermutlich bekommt er dabei noch nicht den Auftrag, ein ganzes Hemd zu schneidern, sondern er soll erst mal einen Ärmel an einen Rumpf annähen (scaffolding, bzw. completion problem). Der Meister schaut ihm dabei über die Schulter, unterstützt und gibt Feedback. Je besser der Lehrling wird, umso komplexer werden die Aufgaben, und umso mehr zieht sich der Meister zurück.
Übertragen auf das Lösen von Gleichungssystemen könnte das bedeuten: Zunächst wird den Schüler/innen gezeigt, wie man ein bestimmtes Verfahren einsetzt (worked example). Anschließend lösen die Schülerinnen und Schüler ähnliche Probleme, zunächst mit einer vorgegebenen Struktur (completion problem), anschließend immer komplexer werdend. Das worked example kann dabei zu Hause durchgearbeitet werden, und ein Video ist im Gegensatz zu einem schriftlichen Beispiel dafür besonders geeignet, weil man darin den Problemlöseprozess in seinen einzelnen Schritten sehr gut zeigen kann. Im Unterricht bleibt dann mehr Zeit für das Anwenden des Verfahrens durch die Schüler/innen, die sich dabei gegenseitig helfen und von der Lehrperson unterstützt werden können. Für Problemlöseprozesse dieser Art ist Flipped Classroom sehr wohl sehr gut geeignet.
Ähnliche Problemlöseverfahren sind beispielsweise die Herleitung und Anwendung der Formel zur Lösung quadratischer Gleichungen (pq-Formel oder Mitternachtsformel) oder die Umwandlung der allgemeinen Form in die Scheitelpunktform bei quadratischen Funktionen. In der Sekundarstufe 2 (darauf bezieht sich Micha nicht, trotzdem hier Beispiele) sind das etwa die Anwendung verschiedener Ableitungsverfahren oder das Beweisverfahren der vollständigen Induktion.
Ich kenne die Gegenargumente: Man kann die Schülerinnen und Schüler das Verfahren doch selbst entdecken lassen. Kann man versuchen, muss man aber nicht. Es ist bei manchen Verfahren hingegen schwierig und aufwändig, sie selbst zu entdecken, und selbst unter Anleitung ist die Gefahr groß, dass schwächere Schülerinnen und Schüler scheitern. Vielleicht wird man das Verfahren gemeinsam am Anfang einer Stunde an der Tafel mit den Schülerinnen und Schülern im Unterrichtsgespräch erarbeiten. Wie viel kommt dabei vom einzelnen Schüler? Wie viel ist vom Lehrer dabei bereits vorgegeben? Werden bestimmte Beiträge von Schüler/innen an entsprechenden Stellen im Verfahren erwartet, und wer gibt diese Beiträge? Nur die guten Schüler/innen? Wie viele werden dabei abgehängt? Wie viel ist daran dann tatsächlich selbst entdeckt? Ich halte es für ehrlicher und klarer, einen bereits im Vorfeld sowieso festgelegten Weg ausführlich und gut erklärt vorab (z.B. in Form eines Videos) zu geben. Man gewinnt dadurch mehr Zeit im Unterricht für das Üben des Verfahrens durch die Schülerinnen und Schüler und mehr Raum für Hilfe und Unterstützung. Denn eins ist klar: Verständnis kommt bei vielen erst in dieser Phase.
Wer hingegen die Haltung hat, alles müsse selbst entdeckt werden, begeht meiner Ansicht nach einen ähnlichen Fehler wie Personen, die Flipped Classroom für die Methode halten. Was nicht selbst entdeckt werden kann oder muss, kann und darf auch erklärt werden. Es kommt darauf an, zu entscheiden, wann das angebracht ist und wann nicht. Und wenn man sich für die Erklärung entscheidet, dann mag Flipped Classroom eine geeignete Methode sein.
Es gibt natürlich auch zahlreiche Problemlöseverfahren, die besser selbstständig erarbeitet werden. Ein Beispiel sei die Addition von Brüchen. Natürlich lässt man Schülerinnen und Schüler hier erst mal handelnd Erfahrungen machen (beispielsweise durch Legen von Bruchrechenplättchen), um anschließend über Bilder auf die symbolische Ebene zu wechseln (EIS-Prinzip nach Bruner). Natürlich führt man nicht die Addition von Brüchen mit einem Video ein, in der man das Verfahren symbolisch erklärt. Eine Unterrichtseinheit zum Bruchrechnen zieht sich aber länger hin. Warum nicht zu einem späteren Zeitpunkt zur Vorbereitung nochmal eine zusammenfassende Erklärung mit Bildern und Symbolen in einem Video als Vorbereitungsaufgabe auf die nächste Übungsstunde geben, die all das zusammenfasst, was in den bisherigen Unterrichtsstunden gemeinsam erarbeitet wurde?
Den Ansatz des flexiblen Einsatzes der Methode haben wir auch im Projekt Flip your Class! verfolgt. Es ging in dem Projekt nicht darum, den Flipped Classroom im traditionellen Sinn auf alle möglichen Unterrichtszenarien zu übertragen. Im Sinne einer Lernprozessgestaltung sollte zunächst überlegt werden, in welche Phasen sich ein bestimmter Lernprozess aufteilt, um anschließend zu überlegen, ob an bestimmten Stellen des Lernprozesses digitale Medien wie Videos geeignet sind. Im Übrigen habe ich in dem verlinkten Beitrag zur Lernprozessgestaltung im Juni 2015 schon ähnlich argumentiert wie Micha jetzt (durchaus angeregt durch Diskussionen mit Micha damals bei der Mathe-MOOC-Produktion). Und abschließend zu diesem Abschnitt sei noch angemerkt, dass es noch viele Unterrichtsfächer außer Mathematik gibt, in denen zahlreiche weitere passende Situationen für den Einsatz von Flipped Classroom zu finden sind.
Bei Diskussionen zu Flipped Classroom wird immer die Frage gestellt, ob man nur einzelne Unterrichtseinheiten flippen sollte oder den ganzen Unterricht. Die bisherigen Überlegungen sprechen für ersteres. Trotzdem gibt es auch ein Argument dafür, dass die komplette Umstellung auf Flipped Classroom in bestimmten Kontexten sinnvoll sein kann. (Nochmal: Es kommt auf den Kontext an.) Dazu jetzt:
Professionalisierungsargument: Flipped Classroom als Türöffner
Das Wesentliche am Flipped Classroom ist nicht Videolernen oder Onlinelernen. Es geht nicht um Lernen mit digitalen Medien. Es ist kein E-Learning-Konzept, im Gegenteil: Das Wesentliche am Flipped Classroom ist die Nutzung der Präsenzzeit (d.h. im Schulkontext: der Unterrichtsstunde). Sie soll so schülerzentriert wie möglich gestaltet sein. Es ist eigentlich ein Präsenzkonzept. Die Präsenz soll für die gemeinsame Arbeit verwendet werden. Wenn „Inputphasen“ am Anfang einer Stunde Zeit für Interaktion „wegnehmen“, dann bietet es sich an, diese in die Vorbereitungszeit vorzuverlagern. Und gemeinsame Präsenszeiten sind dann besonders wertvoll, wenn alle vorbereitet kommen. Amat victoria curam. Soviel zur Grundidee.
Wenn Lehrerinnen und Lehrer bereits mit anderen Methoden einen schülerzentrierten (Mathematik-)Unterricht durchführen: Perfekt! Sie brauchen sich wahrscheinlich gar nicht mit Flipped Classroom befassen, denn sie haben gar nicht die Notwendigkeit, ihren Unterricht schülerzentrierter zu gestalten. Es ist aber nun so, dass viele Lehrerinnen und Lehrer immer noch einen sehr lehrerzentrierten Unterricht machen, mit Lehrervorträgen zu Beginn einer Stunde und mit einem hohen Redeanteil der Lehrperson, in etwa so wie Micha das beschreibt. Für diese Lehrerinnen und Lehrer kann Flipped Classroom einen guten Einstieg in einen schülerzentrierteren Unterricht bieten: In einem ersten Schritt werden die „Inputphasen“ per Video nach Hause vorgelagert. Wer dies erstmals tut, findet sich anschließend mit einer Unterrichtsstunde konfrontiert, in der nun schülerzentrierter gearbeitet werden muss. Vielleicht fühlt man sich als Lehrerin oder Lehrer dann zunächst unsicher, weil man flexibler agieren muss und nicht alles durchplanen kann. Mit der Zeit wird man dann aber sicherer und lernt das schülerzentrierte Arbeiten im Unterricht zu schätzen. Und dann beginnt vielleicht ein Prozess, den ich in Gesprächen mit Lehrerinnen und Lehrern, die Flipped Classroom durchführen, schon oft bemerkt habe: Man beginnt sich an seinen Videos zu stören. „Ich erkläre noch zu viel, das kriegen meine Schüler selbst raus.“ Und jetzt beginnt man, sich von dem starren Flipped-Classroom-Konzept zu lösen, beginnt Erklärungen durch Selbstentdeckungsaktivitäten auszutauschen und nähert sich so sukzessive den Überlegungen, die oben im Kontext der Lernprozessgestaltung beschrieben wurden. Flipped Classroom schafft sich dann selbst dort ab, wo er nicht passt, und bleibt vielleicht dort bestehen, wo er passt. Die Methode hat dann wie eine Art Katalysator zum Umdenken und Umgestaltungen des Unterrichts gewirkt. Sie hat Prozesse der weiteren Professionalisierung der Lehrperson angestoßen. Dabei müssen Haltungen und Einstellungen geändert werden – sehr hartnäckige Kameraden, an denen durch fachdidaktische Fortbildungen kaum gekratzt wird. Letztlich ist Flipped Classroom dann eine Methode, in der die Lehrperson Formen des schülerzentrierten Arbeitens für sich selbst entdeckt. 😉
Wenn eine Lehrperson von einem lehrerzentrierten Unterricht zunächst komplett auf Flipped Classroom umsteigt, ist mathematikdidaktisch noch nicht viel gewonnen. Es bleibt das alte Muster „Erklären – Üben“ bestehen. Es ist nicht viel gewonnen. Aber ein wenig. Es ist mehr Zeit gewonnen für das Üben gemeinsam mit anderen und mit der Lehrperson. Und es birgt die Chance, Umdenkprozesse bei der Lehrperson hervorzurufen, die zu weiteren Schritten der eigenen Unterrichtsentwicklung führen. Insofern ist diese „Zwischenphase“ der Unterrichtsentwicklung fachdidaktisch noch nicht gut (also: nicht besser und nicht schlechter als vorher), aber sie birgt große Chancen für die Weiterentwicklung hin zu gutem Unterricht. Und wie gesagt: Diese Erfahrungen haben schon einige Lehrerinnen und Lehrer gemacht, die Flipped Classroom einsetzen, und ich habe das auch für meine Vorlesungen so empfunden (Flipped Classroom nur ein Übergangsmodell?). Flipped Classroom kann ein Türöffner sein, wie Sebastian Schmidt das in seinem Blogbeitrag Projektende Flipped Classroom – ein Fazit beschreibt.
Implementierungsargument: Methoden können gut oder schlecht umgesetzt werden
Micha bezieht sich auf Videobeispiele von „Apologeten“ des Flipped Classroom, die mathematikdidaktisch fragwürdig sind. Kein Zweifel: Man kann die Methode gut oder schlecht durchführen, wie jede Methode. Die Tatsache, dass man viele Videobeispiele findet, die einem fachdidaktisch die Fußnägel kräuseln, bedeutet nicht, dass die Methode Mist ist. Es bedeutet, dass sie falsch eingesetzt wurde. Genauso wird das von Micha beschriebene Vorgehen beim Begriffslernen bestimmt landein landaus in zahlreichen Fällen miserabel durchgeführt. Nur: Darüber findet man nichts im Netz (weil das nicht kommuniziert wird). Und ist dadurch diese Art des Begriffslernens schlecht, nur weil viele sie schlecht durchführen? Sicher nicht.
Ein paar Kommentare zu Detailargumenten hinsichtlich der Umsetzung des Flipped Classroom von Micha:
- Erlärmirnix: Immer dasselbe. Natürlich bringt es nichts, sich ein Video immer wieder anschauen zu können, das man einfach nicht versteht. Aber es bringt etwas, ein Video oder einen Ausschnitt nochmal anschauen zu können, wenn man beim ersten Mal etwas nicht verstanden hat, weil man beim ersten Mal den Überblick über den Gesamtprozess noch nicht hatte, beim zweiten (selektiven) Schauen aber entsprechende Lücken füllen kann. Wer mit einem Zugang grundsätzlich Schwierigkeiten hat, dem bringt eine Wiederholung desselben aber selbstverständlich nichts. Das ist auch im realen Unterricht so. Daher müssen in bestimmten Fällen verschiedene Zugänge gegeben werden (Redundanz – siehe Michas Beitrag). Das ist nicht Flipped-Classroom-spezifisch, sondern unabhängig von der Methode ein Grundprinzip. Und natürlich können gute Videos auch einer dieser Zugänge sein. Sie sind kein Redundanzkiller, wenn sie gut gemacht sind.
- Erklärmirnix: Nachhaltigkeit. „Auf jede Erarbeitung folgt eine Erstferstigung.“ Ich stimme vollkommen zu. Ob aber eine Erstfestigung nur unter Betreuung möglich ist oder auch alleine, würde ich vom Kontext abhängig machen, beispielsweise vom Inhalt, aber auch von der Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler in der spezifischen Klasse. Ich bin nicht der Meinung, dass Schülerinnen und Schüler das niemals alleine können, wenn sie geeignete Aufgaben und Hilfestellungen zur Hand haben. Wir sollten es den Kindern und Jugendlichen in passenden Kontexten zumindest einmal zutrauen und sie dabei unterstützen, sich selbstständig in einen kleinen Bereich einarbeiten zu lernen. Genau das sollen sie doch können, wenn sie die Schule verlassen? Oder sollen wir das allen anderen Fächern überlassen, nur nicht dem Fach Mathematik?
Lasst uns also doch nicht schlechte Mathevideos im Netz oder schlechte Flipped-Classroom-Beispiele als Argument dafür hernehmen, dass die Methode Flipped Classroom prinzipiell ungeeignet ist. Lasst uns lieber die Chance nutzen, dass Prozesse, die früher im Verborgenen im Klassenzimmer stattgefunden haben, nun öffentlich werden (beispielsweise dadurch, das Lehrerinnen und Lehrer Videos ins Netz stellen). Und lasst uns dann anhand der konkreten Beispiele gemeinsam diskutieren, warum das schlecht ist und wie man es besser machen könnte. Das hilft nicht nur der „Community“, sondern insbesondere auch der Lehrperson, die das Video online gestellt hat. Alle „Apologeten“ des Flipped Classroom, die ich bislang kennen gelernt habe, waren extrem reflektierte Personen, die unzufrieden mit ihrem bisherigen Unterricht waren, und die das extreme Bedürfnis hatten, ihren Unterricht qualitativ besser zu machen. Viele dieser Personen sind mit Sicherheit dankbar für Rückmeldungen und Kritik, weil sie selbst ein permanentes Unbehagen umhertreibt. Sie trauen sich, ihren Unterricht öffentlich zu machen, auch auf die Gefahr hin, dass er schlecht ist. Ich finde das sehr mutig. Und wir sollten es durch eine konstruktive Diskussion würdigen und nicht durch Pauschalaussagen wie „Alle Mathevideos im Netz sind fachdidaktisch Mist, also ist Flipped Classroom Mist“. Eine solche Diskussion wird lange dauern, aber was haben wir zu verlieren? Manch einer könnte sagen, dass man nun schlechte Unterrichtsbeispiele im Netz findet, an denen sich andere orientieren und dann auch schlechten Unterricht machen. Ich würde sagen: Früher hat man sich halt am schlechten Unterricht seiner Mentorinnen und Mentoren orientiert, ohne Möglichkeit der öffentlichen Diskussion. Offen gelegte schlechte Umsetzungen sind besser als geheime und helfen dabei gemeinsam zu verstehen, wie man ein Konzept besser durchführen kann.
Lasst uns doch also bitte die „Befürworter-Gegner-Positionen“ ablegen und zu einer konstruktiven, sachlichen Diskussion übergehen, die so viel wertvolle Potenziale birgt!
Ergänzung: Mir ist gerade bewusst geworden, dass dieser Beitrag – ähnlich dem Beitrag von Sebastian Schmidt – so etwas wie einen Schlusspunkt für meine Arbeit mit dem Flipped Classroom bildet. Seit ziemlich genau sechs Jahren beschäftige ich mich jetzt intensiv mit dem Thema, und unser Schulprojekt Flip your class! neigt sich nun auch dem Ende zu. Der Beitrag hier ist für mein Fazit einer langen und intensiven Beschäftigung mit der Methode. Ich ziehe mich aus der Diskussion nicht zurück, aber werde mich auf neue Felder konzentrieren: Die Bereiche Forschung, Nachwuchsförderung, Transfer, Open Science, Digitalisierung, IT und Campusmanagement an unserer Hochschule mitzugestalten. Insofern werde ich für mich das Forschungsthema Flipped Classroom mit diesem Beitrag (und dem Buch, das wir im Rahmen des Flip your Class!-Projektes noch veröffentlichen werden), beschließen.