Mit ‘flipclass’ getaggte Beiträge

Flippig sein wenn’s passt!

Veröffentlicht: Dienstag, Oktober 3, 2017 in FlippedClassroom
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Ich schulde Michael und euch schon länger eine Antwort auf Michas Beitrag Nicht flippig genug zu seiner Kritik am Einsatz des Flipped Classroom im Mathematikunterricht der Sekundarstufe I. Es war viel los in den letzten Monaten. Das Prorektorat für Forschung, Medien und IT an unserer Hochschule lässt mir wenig Zeit für anderes, und ich achte seit längerem auch auf eine ausgeglichene Work-Life-Balance. Doch genug der müden Entschuldigungsversuche, es wird langsam Zeit zu antworten. Ich hab mir heute die Zeit genommen, ein paar Gedanken aufzuschreiben, die mir schon lange auf dem Herzen liegen. Los geht’s.

Keine Methode ist eine Super-Methode

Zu Beginn ein paar grundsätzliche Überlegungen zu Unterrichtsmethoden: Flipped Classroom ist nicht die beste Methode, und auch nicht grundsätzlich besser als andere Methoden. Das gilt für alle Methoden. Unterricht – egal ob an der Schule oder Hochschule – ist zu komplex, als dass man so einfache Aussagen treffen könnte wie „Flipped Classroom ist besser als Methode X“. Entscheidend ist der Kontext: Die Klassenstufe, das Fach, der Inhalt, die zu erlernenden Kompetenzen, das Klassenklima, die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Klasse (und letztlich jedes einzelnen Schülers bzw. jeder einzelnen Schülerin), die pädagogische, fachliche und fachdidaktische Kompetenz der Lehrperson, die Uhrzeit, das Wetter, die Reichhaltigkeit des Frühstücks vom Vormittag. Bitte beliebig ergänzen. Alle zu berücksichtigenden Kontextfaktoren ergeben zusammengenommen einen multidimensionalen Raum, in dem man ziemlich viele verschiedene Unterrichtskontexte verorten kann. Im einen Kontext ist Methode A besser, im anderen Methode B. Unter anderem braucht es daher Lehrer/innen, die mit all ihrem Wissen und ihrem Einfühlungsvermögen eine passende Methode für den entsprechenden Kontext auswählen. Ansonsten hätten wir schon längst computergesteuerte Unterrichtssettings, und Versuche in dieser Art sind ja bekanntlich schon mehrfach erheblich gescheitert. Gedankenspiel: Wenn wir den absolut gleichen Klassenkontext haben und nur eine Variable verändern, kann das schon bedeuten, dass eine Methode nicht mehr funktioniert und eine andere besser ist. Gleicher Kontext, andere Lehrperson: andere Methode. Gleicher Kontext, anderes Klassenklima: andere Methode. Das bedeutet nicht, dass fachdidaktische Überlegungen zur Eignung einer Methode für einen bestimmten Inhalt überflüssig sind, im Gegenteil: Fachdidaktik liefert wichtige Argumente für oder gegen den Einsatz eines methodischen Vorgehens. Diese Argumente muss man kennen – um sich dann begründet für oder gegen eine Methode entscheiden zu können, je nach Kontext.

Eine Methode ist nur eine Methode

An dieser Stelle möchte ich  etwas zu meiner persönlichen Einstellung zum Flipped Classroom sagen. Kann man überhaupt eine Einstellung zu Methoden haben? Das kommt mir komisch vor.  Methoden sind doch nur Methoden. Trotzdem habe ich den Eindruck, mir wird eine unterstellt. Ich sei ein „Verfechter“ der Methode, ich sei ein „Protagonist“ oder gar ein „Missionar“. Das empfinde ich nicht so. Ich setze die Methode in meinen eigenen Vorlesungen ein und habe sie dort für mich weiterentwickelt. Ich habe Erfahrungen gesammelt, über die ich gebloggt habe, und ich habe ein Gespür dafür entwickelt, was funktioniert und was nicht. Das alles teile ich in Vorträgen und Workshops mit, wenn ich die Methode vorstelle. Und ich stelle dabei immer heraus, dass Flipped Classroom nicht die beste Methode ist und ich nicht falsch verstanden werden will: Ich präsentiere die Methode immer mit all ihren Vor- und Nachteilen. Mein Ziel in Vorträgen ist, die Methode vorzustellen, damit die Zuhörer/innen sich anschließend für oder gegen die Methode entscheiden können und dafür Argumente haben. Wenn ich Workshops gebe, dann lasse ich die Teilnehmer/innen  überlegen, wie man die Methode auf ihren eigenen Kontext übertragen könnte und ob das überhaupt sinnvoll ist. Und nicht selten kommt dabei heraus, dass die Methode in diesem oder jenem Kontext wahrscheinlich nicht geeignet ist.

Genauso wenig bin ich übrigens ein Verfechter des Einsatzes digitaler Medien und ich halte digitale Medien auch den analogen nicht grundsätzlich für überlegen (Irrtum Nr. 6). Ich unterstreiche dabei immer das Wörtchen grundsätzlich. Manchmal sind sie es, manchmal nicht. Es kommt eben auf den Kontext an.

Lehrpersonen müssen sich begründet für eine Methode entscheiden können. Dazu müssen sie verschiedene Methoden kennen. Ich stelle Flipped Classroom vor, damit sie eine weitere Methode kennen, für oder gegen die sie sich entscheiden können. Axel Krommer schreibt in seinem Kommentar zu Michas Blogbeitrag: „Ich finde es großartig, dass Christian Spannagel auf seinem Blog die Bühne für eine Fundamentalkritik des Flipped Classrooms bereitet und damit zu erkennen gibt, dass ihm vor allem die Sache und nicht persönliche Interessen am Herzen liegen.“ Das ist zwar sehr nett von Axel formuliert, aber gewundert habe ich mich trotzdem ein bisschen: Ich dachte eigentlich, die ganze Zeit über schon zu erkennen geben zu haben, dass mir die Sache am Herzen liegt.

Bestimmt kommt der Eindruck, ich sei ein „Verfechter“, daher, dass ich anfangs sehr euphorisch über den Flipped Classroom in meinen eigenen Vorlesungen berichtet habe. Ich bin also vielleicht selbst schuld, dass ich anfangs überwiegend die Vorteile herausgestellt habe. Ich hielt die Methode für eine großartige Bereicherung für meine Vorlesungen und für eine tolle Entdeckung.  Das ist aber schon fünf Jahre her (O Gott, ich werde alt!), und mittlerweile hat sich doch einiges getan. In diesen Jahren gab es genug Anlässe, die Methode tiefer zu durchdenken und Vor- und Nachteile zu erörtern. Einige dieser Anlässe führe ich jetzt im Folgenden an und gehe dabei auch auf Michas Blogbeitrag ein (wird auch Zeit!). Ein kurzes Fazit schon vorab: Micha liefert sehr gute mathematikdidaktische Argumente (die mir nicht neu sind und die ich mir auch schon länger zu eigen gemacht habe, mehr unten). Diese Argumente musst jeder Mathematiklehrer und jede Mathematiklehrerin kennen. Allerdings teile ich nicht die Position, dass damit der Flipped Classroom für den Mathematikunterricht in der Sekundarstufe I grundsätzlich ungeeignet ist. Es gibt Kontexte, in denen passt er nicht (und solche beschreibt Micha), und es gibt Kontexte, in denen passt er. Wir sollten also keine Positionen für oder gegen die Methode einnehmen, sondern sachlich überlegen, wo sie passt. Fundamentalkritik ist für mich genau so zweifelhaft wie Missionarstätigkeit.

Im Folgenden möchte ich meine Antwort auf Michas Beitrag anhand von drei Argumenten strukturieren. Diese sind:

  • Fachdidaktisches Argument: Mathematikunterricht ist nicht nur Begriffslernen
  • Professionalisierungsargument: Flipped Classroom als Türöffner
  • Implementierungsargument: Methoden können gut oder schlecht umgesetzt werden

Ich beginne mit dem fachdidaktischen Argument:

Fachdidaktisches Argument: Mathematikunterricht ist nicht nur Begriffslernen

Micha bezieht sich in seinem Beitrag inhaltlich im Wesentlichen auf Begriffslernen. Aus fachdidaktischer Sicht ist es wesentlich besser, Schülerinnen und Schüler zu Beginn mit Beispielen und Gegenbeispielen arbeiten zu lassen und dabei die Eigenschaften eines Konzepts selbst zu entdecken, als ihnen eine Definition des Konzepts vorzugeben. Man gebe ihnen Vierecke, von denen einige Parallelogramme sind und einige nicht, und lasse diese von den Schüler/innen zunächst einmal sortieren. Anschließend kann man mit ihnen besprechen, warum sie die einen Vierecke zusammengepackt haben und die anderen nicht. Die Schüler/innen müssen dann versuchen zu begründen, warum diese Vierecke „zusammenpassen“ und arbeiten dabei selbst die Eigenschaften eines Parallelogramms heraus. Sie haben durch den Sortiervorgang die definitorischen Eigenschaften von Parallelogrammen selbst durchdrungen, zunächst intuitiv, dann wird das (gemeinsam und angeleitet) versprachlicht. So sieht verständnisorientierter Mathematikunterricht aus, wenn Begriffe erarbeitet werden. Micha hat vollkommen Recht.

Es gibt aber noch andere Lernziele im Mathematikunterricht als Begriffe zu lernen. Ein weiterer wichtiger Bereich ist Problemlösen. Problemlösen an sich ist schon ein vielschichtiges Konzept, das unterschiedlich verstanden wird. Im Folgenden beziehe ich mich nicht auf das Lösen offener Probleme (auch wichtig), sondern auf das Lösen einer Klasse von Probleme, für die es ein Verfahren gibt. Ein Beispiel hierfür ist das Lösen linearer Gleichungssysteme, für das mehrere Lösungsverfahren existieren (Einsetzungs-, Gleichsetzungs- und Additionsverfahren). Diese Art des Problemlösens entspricht ziemlich genau dem, was Psycholog/inn/en unter Problemlösen verstehen: Es gibt einen Ausgangszustand (Gleichungen), einen Zielzustand (Lösung), und ich lerne ein Verfahren, wie ich vom Start- zum Zielzustand gelange. Ich beginne beim Ausgangszustand, entscheide mich für Verfahren (je nach Situation), und versuche dabei, sukzessive zum Zielzustand zu gelangen. Es gibt ein ganzes Forschungsgebiet in der Psychologie zum Problemlösen, das auch die Mathematikdidaktik aufgegriffen hat: worked examples, zu deutsch Lernen mit Lösungsbeispielen. Grundprinzip: Ich zeige das Verfahren zunächst an einem Lösungsbeispiel. Die Schülerinnen und Schüler übertragen das Verfahren anschließend auf ähnliche Probleme (d.h. auf vorgegebene Ausgangszustände). Ein Übergangsformat sind completion problems, bei denen die Schüler/innen zunächst nicht nur den Ausgangszustand erhalten, sondern als Hilfe bereits eine Teillösung, die sie vervollständigen müssen. Das Lernen mit Lösungsbeispielen ist bestens erforscht. Es gibt zahlreiche Arbeiten im Gebiet der Cognitive Lead Theory darüber, wie worked examples gestaltet sein müssen. Es wurde der expertise reversal effect entdeckt, der besagt, dass insbesondere Novizen von Beispielen profitieren. Summa summarum kann man den Forschungsstand folgendermaßen zusammenfassen: worked examples sind ein effizientes und effektives Format, mit dem Anfänger/innen in einem bestimmten Bereich das Lösen eines Problems einer bestimmten Klasse von Problemen lernen können. Sehr passend dazu ist auch das cognitive apprenticeship model (deutsch: Modell der Kognitiven Meisterlehre), das am klassischen Handwerk ansetzt und dieses auf kognitive Problemlöseprozesse überträgt. Wenn ein Schneiderlehrling lernen soll, ein Hemd zu schneidern, wird der Meister ihm zunächst das Verfahren vorführen (worked example, Lernen am Modell). Bei kognitiven Prozessen, wie man sie in der Mathematik findet, muss der „Meister“ dabei seine Gedanken externalisieren, damit der „Lehrling“ sie auch mitbekommt (daher kognitive Meisterlehre). Anschließend geht der Lehrling selbst ans Schneidern. Vermutlich bekommt er dabei noch nicht den Auftrag, ein ganzes Hemd zu schneidern, sondern er soll erst mal einen Ärmel an einen Rumpf annähen (scaffolding, bzw. completion problem). Der Meister schaut ihm dabei über die Schulter, unterstützt und gibt Feedback. Je besser der Lehrling wird, umso komplexer werden die Aufgaben, und umso mehr zieht sich der Meister zurück.

Übertragen auf das Lösen von Gleichungssystemen könnte das bedeuten: Zunächst wird den Schüler/innen gezeigt, wie man ein bestimmtes Verfahren einsetzt (worked example). Anschließend lösen die Schülerinnen und Schüler ähnliche Probleme, zunächst mit einer vorgegebenen Struktur (completion problem), anschließend immer komplexer werdend. Das worked example kann dabei zu Hause durchgearbeitet werden, und ein Video ist im Gegensatz zu einem schriftlichen Beispiel dafür besonders geeignet, weil man darin den Problemlöseprozess in seinen einzelnen Schritten sehr gut zeigen kann. Im Unterricht bleibt dann mehr Zeit für das Anwenden des Verfahrens durch die Schüler/innen, die sich dabei gegenseitig helfen und von der Lehrperson unterstützt werden können. Für Problemlöseprozesse dieser Art ist Flipped Classroom sehr wohl sehr gut geeignet.

Ähnliche Problemlöseverfahren sind beispielsweise die Herleitung und Anwendung der Formel zur Lösung quadratischer Gleichungen (pq-Formel oder Mitternachtsformel) oder die Umwandlung der allgemeinen Form in die Scheitelpunktform bei quadratischen Funktionen. In der Sekundarstufe 2 (darauf bezieht sich Micha nicht, trotzdem hier Beispiele) sind das etwa die Anwendung verschiedener Ableitungsverfahren oder das Beweisverfahren der vollständigen Induktion.

Ich kenne die Gegenargumente: Man kann die Schülerinnen und Schüler das Verfahren doch selbst entdecken lassen. Kann man versuchen, muss man aber nicht. Es ist bei manchen Verfahren hingegen schwierig und aufwändig, sie selbst zu entdecken, und selbst unter Anleitung ist die Gefahr groß, dass schwächere Schülerinnen und Schüler scheitern. Vielleicht wird man das Verfahren gemeinsam am Anfang einer Stunde an der Tafel mit den Schülerinnen und Schülern im Unterrichtsgespräch erarbeiten. Wie viel kommt dabei vom einzelnen Schüler? Wie viel ist vom Lehrer dabei bereits vorgegeben? Werden bestimmte Beiträge von Schüler/innen an entsprechenden Stellen im Verfahren erwartet, und wer gibt diese Beiträge? Nur die guten Schüler/innen? Wie viele werden dabei abgehängt? Wie viel ist daran dann tatsächlich selbst entdeckt? Ich halte es für ehrlicher und klarer, einen bereits im Vorfeld sowieso festgelegten Weg ausführlich und gut erklärt vorab (z.B. in Form eines Videos) zu geben. Man gewinnt dadurch mehr Zeit im Unterricht für das Üben des Verfahrens durch die Schülerinnen und Schüler und mehr Raum für Hilfe und Unterstützung. Denn eins ist klar: Verständnis kommt bei vielen erst in dieser Phase.

Wer hingegen die Haltung hat, alles müsse selbst entdeckt werden, begeht meiner Ansicht nach einen ähnlichen Fehler wie Personen, die Flipped Classroom für die Methode halten. Was nicht selbst entdeckt werden kann oder muss, kann und darf auch erklärt werden. Es kommt darauf an, zu entscheiden, wann das angebracht ist und wann nicht. Und wenn man sich für die Erklärung entscheidet, dann mag Flipped Classroom eine geeignete Methode sein.

Es gibt natürlich auch zahlreiche Problemlöseverfahren, die besser selbstständig erarbeitet werden. Ein Beispiel sei die Addition von Brüchen. Natürlich lässt man Schülerinnen und Schüler hier erst mal handelnd Erfahrungen machen (beispielsweise durch Legen von Bruchrechenplättchen), um anschließend über Bilder auf die symbolische Ebene zu wechseln (EIS-Prinzip nach Bruner). Natürlich führt man nicht die Addition von Brüchen mit einem Video ein, in der man das Verfahren symbolisch erklärt. Eine Unterrichtseinheit zum Bruchrechnen zieht sich aber länger hin. Warum nicht zu einem späteren Zeitpunkt zur Vorbereitung nochmal eine zusammenfassende Erklärung mit Bildern und Symbolen in einem Video als Vorbereitungsaufgabe auf die nächste Übungsstunde geben, die all das zusammenfasst, was in den bisherigen Unterrichtsstunden gemeinsam erarbeitet wurde?

Den Ansatz des flexiblen Einsatzes der Methode haben wir auch im Projekt Flip your Class! verfolgt. Es ging in dem Projekt nicht darum, den Flipped Classroom im traditionellen Sinn auf alle möglichen Unterrichtszenarien zu übertragen. Im Sinne einer Lernprozessgestaltung sollte zunächst überlegt werden, in welche Phasen sich ein bestimmter Lernprozess aufteilt, um anschließend zu überlegen, ob an bestimmten Stellen des Lernprozesses digitale Medien wie Videos geeignet sind. Im Übrigen habe ich in dem verlinkten Beitrag zur Lernprozessgestaltung im Juni 2015 schon ähnlich argumentiert wie Micha jetzt (durchaus angeregt durch Diskussionen mit Micha damals bei der Mathe-MOOC-Produktion). Und abschließend zu diesem Abschnitt sei noch angemerkt, dass es noch viele Unterrichtsfächer außer Mathematik gibt, in denen zahlreiche weitere passende Situationen für den Einsatz von Flipped Classroom zu finden sind.

Bei Diskussionen zu Flipped Classroom wird immer die Frage gestellt, ob man nur einzelne Unterrichtseinheiten flippen sollte oder den ganzen Unterricht. Die bisherigen Überlegungen sprechen für ersteres. Trotzdem gibt es auch ein Argument dafür, dass die komplette Umstellung auf Flipped Classroom in bestimmten Kontexten sinnvoll sein kann. (Nochmal: Es kommt auf den Kontext an.) Dazu jetzt:

Professionalisierungsargument: Flipped Classroom als Türöffner

Das Wesentliche am Flipped Classroom ist nicht Videolernen oder Onlinelernen. Es geht nicht um Lernen mit digitalen Medien. Es ist kein E-Learning-Konzept, im Gegenteil: Das Wesentliche am Flipped Classroom ist die Nutzung der Präsenzzeit (d.h. im Schulkontext: der Unterrichtsstunde). Sie soll so schülerzentriert wie möglich gestaltet sein. Es ist eigentlich ein Präsenzkonzept. Die Präsenz soll für die gemeinsame Arbeit verwendet werden. Wenn „Inputphasen“ am Anfang einer Stunde Zeit für Interaktion „wegnehmen“, dann bietet es sich an, diese in die Vorbereitungszeit vorzuverlagern. Und gemeinsame Präsenszeiten sind dann besonders wertvoll, wenn alle vorbereitet kommen. Amat victoria curam. Soviel zur Grundidee.

Wenn Lehrerinnen und Lehrer bereits mit anderen Methoden einen schülerzentrierten (Mathematik-)Unterricht durchführen: Perfekt! Sie brauchen sich wahrscheinlich gar nicht mit Flipped Classroom befassen, denn sie haben gar nicht die Notwendigkeit, ihren Unterricht schülerzentrierter zu gestalten. Es ist aber nun so, dass viele Lehrerinnen und Lehrer immer noch einen sehr lehrerzentrierten Unterricht machen, mit Lehrervorträgen zu Beginn einer Stunde und mit einem hohen Redeanteil der Lehrperson, in etwa so wie Micha das beschreibt. Für diese Lehrerinnen und Lehrer kann Flipped Classroom einen guten Einstieg in einen schülerzentrierteren Unterricht bieten: In einem ersten Schritt werden die „Inputphasen“ per Video nach Hause vorgelagert. Wer dies erstmals tut, findet sich anschließend mit einer Unterrichtsstunde konfrontiert, in der nun schülerzentrierter gearbeitet werden muss. Vielleicht fühlt man sich als Lehrerin oder Lehrer dann zunächst unsicher, weil man flexibler agieren muss und nicht alles durchplanen kann. Mit der Zeit wird man dann aber sicherer und lernt das schülerzentrierte Arbeiten im Unterricht zu schätzen. Und dann beginnt vielleicht ein Prozess, den ich in Gesprächen mit Lehrerinnen und Lehrern, die Flipped Classroom durchführen, schon oft bemerkt habe: Man beginnt sich an seinen Videos zu stören. „Ich erkläre noch zu viel, das kriegen meine Schüler selbst raus.“ Und jetzt beginnt man, sich von dem starren Flipped-Classroom-Konzept zu lösen, beginnt Erklärungen durch Selbstentdeckungsaktivitäten auszutauschen und nähert sich so sukzessive den Überlegungen, die oben im Kontext der Lernprozessgestaltung beschrieben wurden. Flipped Classroom schafft sich dann selbst dort ab, wo er nicht passt, und bleibt vielleicht dort bestehen, wo er passt. Die Methode hat dann wie eine Art Katalysator zum Umdenken und Umgestaltungen des Unterrichts gewirkt. Sie hat Prozesse der weiteren Professionalisierung der Lehrperson angestoßen. Dabei müssen Haltungen und Einstellungen geändert werden – sehr hartnäckige Kameraden, an denen durch fachdidaktische Fortbildungen kaum gekratzt wird. Letztlich ist Flipped Classroom dann eine Methode, in der die Lehrperson Formen des schülerzentrierten Arbeitens für sich selbst entdeckt. 😉

Wenn eine Lehrperson von einem lehrerzentrierten Unterricht zunächst komplett auf Flipped Classroom umsteigt, ist mathematikdidaktisch noch nicht viel gewonnen. Es bleibt das alte Muster „Erklären – Üben“ bestehen. Es ist nicht viel gewonnen. Aber ein wenig. Es ist mehr Zeit gewonnen für das Üben gemeinsam mit anderen und mit der Lehrperson. Und es birgt die Chance, Umdenkprozesse bei der Lehrperson hervorzurufen, die zu weiteren Schritten der eigenen Unterrichtsentwicklung führen. Insofern ist diese „Zwischenphase“ der Unterrichtsentwicklung fachdidaktisch noch nicht gut (also: nicht besser und nicht schlechter als vorher), aber sie birgt große Chancen für die Weiterentwicklung hin zu gutem Unterricht. Und wie gesagt: Diese Erfahrungen haben schon einige Lehrerinnen und Lehrer gemacht, die Flipped Classroom einsetzen, und ich habe das auch für meine Vorlesungen so empfunden (Flipped Classroom nur ein Übergangsmodell?). Flipped Classroom kann ein Türöffner sein, wie Sebastian Schmidt das in seinem Blogbeitrag Projektende Flipped Classroom – ein Fazit beschreibt.

Implementierungsargument: Methoden können gut oder schlecht umgesetzt werden

Micha bezieht sich auf Videobeispiele von „Apologeten“ des Flipped Classroom, die mathematikdidaktisch fragwürdig sind. Kein Zweifel: Man kann die Methode gut oder schlecht durchführen, wie jede Methode. Die Tatsache, dass man viele Videobeispiele findet, die einem fachdidaktisch die Fußnägel kräuseln, bedeutet nicht, dass die Methode Mist ist. Es bedeutet, dass sie falsch eingesetzt wurde. Genauso wird das von Micha beschriebene Vorgehen beim Begriffslernen bestimmt landein landaus in zahlreichen Fällen miserabel durchgeführt. Nur: Darüber findet man nichts im Netz (weil das nicht kommuniziert wird). Und ist dadurch diese Art des Begriffslernens schlecht, nur weil viele sie schlecht durchführen? Sicher nicht.

Ein paar Kommentare zu Detailargumenten hinsichtlich der Umsetzung des Flipped Classroom von Micha:

  • Erlärmirnix: Immer dasselbe. Natürlich bringt es nichts, sich ein Video immer wieder anschauen zu können, das man einfach nicht versteht. Aber es bringt etwas, ein Video oder einen Ausschnitt nochmal anschauen zu können, wenn man beim ersten Mal etwas nicht verstanden hat, weil man beim ersten Mal den Überblick über den Gesamtprozess noch nicht hatte, beim zweiten (selektiven) Schauen aber entsprechende Lücken füllen kann. Wer mit einem Zugang grundsätzlich Schwierigkeiten hat, dem bringt eine Wiederholung desselben aber selbstverständlich nichts. Das ist auch im realen Unterricht so. Daher müssen in bestimmten Fällen verschiedene Zugänge gegeben werden (Redundanz – siehe Michas Beitrag). Das ist nicht Flipped-Classroom-spezifisch, sondern unabhängig von der Methode ein Grundprinzip. Und natürlich können gute Videos auch einer dieser Zugänge sein. Sie sind kein Redundanzkiller, wenn sie gut gemacht sind.
  • Erklärmirnix: Nachhaltigkeit. „Auf jede Erarbeitung folgt eine Erstferstigung.“ Ich stimme vollkommen zu. Ob aber eine Erstfestigung nur unter Betreuung möglich ist oder auch alleine, würde ich vom Kontext abhängig machen, beispielsweise vom Inhalt, aber auch von der Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler in der spezifischen Klasse. Ich bin nicht der Meinung, dass Schülerinnen und Schüler das niemals alleine können, wenn sie geeignete Aufgaben und Hilfestellungen zur Hand haben. Wir sollten es den Kindern und Jugendlichen in passenden Kontexten zumindest einmal zutrauen und sie dabei unterstützen, sich selbstständig in einen kleinen Bereich einarbeiten zu lernen. Genau das sollen sie doch können, wenn sie die Schule verlassen? Oder sollen wir das allen anderen Fächern überlassen, nur nicht dem Fach Mathematik?

Lasst uns also doch nicht schlechte Mathevideos im Netz oder schlechte Flipped-Classroom-Beispiele als Argument dafür hernehmen, dass die Methode Flipped Classroom prinzipiell ungeeignet ist. Lasst uns lieber die Chance nutzen, dass Prozesse, die früher im Verborgenen im Klassenzimmer stattgefunden haben, nun öffentlich werden (beispielsweise dadurch, das Lehrerinnen und Lehrer Videos ins Netz stellen). Und lasst uns dann anhand der konkreten Beispiele gemeinsam diskutieren, warum das schlecht ist und wie man es besser machen könnte. Das hilft nicht nur der „Community“, sondern insbesondere auch der Lehrperson, die das Video online gestellt hat. Alle „Apologeten“ des Flipped Classroom, die ich bislang kennen gelernt habe, waren extrem reflektierte Personen, die unzufrieden mit ihrem bisherigen Unterricht waren, und die das extreme Bedürfnis hatten, ihren Unterricht qualitativ besser zu machen. Viele dieser Personen sind mit Sicherheit dankbar für Rückmeldungen und Kritik, weil sie selbst ein permanentes Unbehagen umhertreibt. Sie trauen sich, ihren Unterricht öffentlich zu machen, auch auf die Gefahr hin, dass er schlecht ist. Ich finde das sehr mutig. Und wir sollten es durch eine konstruktive Diskussion würdigen und nicht durch Pauschalaussagen wie „Alle Mathevideos im Netz sind fachdidaktisch Mist, also ist Flipped Classroom Mist“. Eine solche Diskussion wird lange dauern, aber was haben wir zu verlieren? Manch einer könnte sagen, dass man nun schlechte Unterrichtsbeispiele im Netz findet, an denen sich andere orientieren und dann auch schlechten Unterricht machen. Ich würde sagen: Früher hat man sich halt am schlechten Unterricht seiner Mentorinnen und Mentoren orientiert, ohne Möglichkeit der öffentlichen Diskussion. Offen gelegte schlechte Umsetzungen sind besser als geheime und helfen dabei gemeinsam zu verstehen, wie man ein Konzept besser durchführen kann.

Lasst uns doch also bitte die „Befürworter-Gegner-Positionen“ ablegen und zu einer konstruktiven, sachlichen Diskussion übergehen, die so viel wertvolle Potenziale birgt!

Ergänzung: Mir ist gerade bewusst geworden, dass dieser Beitrag – ähnlich dem Beitrag von Sebastian Schmidt – so etwas wie einen Schlusspunkt für meine Arbeit mit dem Flipped Classroom bildet. Seit ziemlich genau sechs Jahren beschäftige ich mich jetzt intensiv mit dem Thema, und unser Schulprojekt Flip your class! neigt sich nun auch dem Ende zu. Der Beitrag hier ist für mein Fazit einer langen und intensiven Beschäftigung mit der Methode. Ich ziehe mich aus der Diskussion nicht zurück, aber werde mich auf neue Felder konzentrieren: Die Bereiche Forschung, Nachwuchsförderung, Transfer, Open Science, Digitalisierung, IT und Campusmanagement an unserer Hochschule mitzugestalten. Insofern werde ich für mich das Forschungsthema Flipped Classroom mit diesem Beitrag (und dem Buch, das wir im Rahmen des Flip your Class!-Projektes noch veröffentlichen werden), beschließen.  

 

Lernzeit effektiv nutzen: Süßer die Glocken nie klingen

Veröffentlicht: Donnerstag, Juli 2, 2015 in Uncategorized
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Wie viel Zeit geht zu Beginn einer Vorlesung oder einem Seminar drauf, bis alle ruhig sind, sodass man anfangen kann? Ziemlich viel. Ich habe früher immer lange gewartet, bis es mucksmäuschen still ist. Das kann dauern, ist aber extrem wichtig. Man muss eine Stecknadel fallen hören. Erst wenn keiner mehr das Holztischchen vor sich herunterklappt, mit dem Mäppchen raschelt, einen Ordner aus dem Rucksack heraus holt oder eine Wasserflasche unter Zischen öffnet, kann man in Ruhe beginnen. Alle konzentrieren sich auf das, was vorne passiert, und als Dozent muss man nicht schreien.

Ich habe andere Dozentinnen und Dozenten noch nie verstanden, wenn diese sich beklagt haben, dass die Studierenden zu laut sind. Ich bin davon überzeugt, dass dies in der Verantwortung der Dozentin bzw. des Dozenten liegt. Wer Ruhe kultiviert, braucht nicht zu schreien. Wer über Lärm hinweg geht, hat keine Chance.

Ruhe ist wichtig, damit alle konzentriert bei der Sache sein können. Ruhe ist umso schwieriger zu gewährleisten, je öfter man zwischen Frontalphasen und Arbeitsphasen wechselt. In der Methode Think – Pair – Share beispielsweise beraten sich Studierende zu nächst mit der Nachbarin oder dem Nachbarn über eine Frage, bevor dann alle im Plenum darüber diskutieren. In der „Pair“-Phase ist somit eine produktive Unruhe erwünscht, in der „Share“-Phase allerdings nicht, denn hier muss es wieder mucksmäuschenstill sein, damit man die studentischen Beiträge versteht.

Früher habe ich auch bei solchen Phasenwechseln immer wieder „ewig“ gewartet, bis alle ruhig sind (also kein Klappern, kein Rascheln usw.). Ständig musste ich „Psssscht!“ sagen oder zur Ruhe ermahnen. Das ist sehr anstrengend und strapaziert die Nerven von allen Anwesenden.

Neulich ist mir im Praktikum an einer Grundschule wieder einmal aufgefallen, wie doof ich eigentlich bin. Ich meine damit: Es gibt doch schon super Methoden und Rituale in der Schule für alle möglichen Zwecke. Wieso komm ich eigentlich nie auf den Gedanken, diese auch in der Hochschule einzusetzen? Insbesondere in den Lehramtsstudiengängen: Weshalb verwenden wir dort nicht auch die Methoden, die unsere zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer in der Schule einsetzen werden?

Zu Beginn dieses Semesters habe ich getestet: den Klangstab. In der ersten Sitzung habe ich mit meinen Studierenden ein Ritual eingeübt: Ich lasse den Klangstab ertönen. Nach drei Sekunden schlage ich ihn wieder an. Beim zweiten Schlag darf niemand mehr etwas machen oder sagen. Mucksmäuschenstill müssen alle sein. Keine Bewegung. Zwei, drei mal habe ich das geübt. Und es hat funktioniert: Arbeitsphase („murmel murmel murmel“). Klangstab. Ruhe. Entspannte Diskussion.

klangstab

Alternativ tut es übrigens auch eine sogenannte Pädagogenglocke oder Rezeptionsklingel, die wir einmal beim Hörsaalspiel Ring the Bell! eingesetzt haben. Alles in allem kann man aber sagen: Große Investitionen sind nicht notwendig.

Durch dieses einfache Ritual wird mühsames Ermahnen und lautes „Bitte seid jetzt ruhig.“ komplett überflüssig. Der Klang hat ausreichend Signalwirkung. Relativ schnell konnte ich sogar auf den zweiten Schlag nach drei Sekunden verzichten. Der erste Ton genügte, und alle waren sofort ruhig. Mittlerweile kann ich sogar ganz auf den Klangstab verzichten, weil ein einfaches „Jetzt tragen wir alle Erkenntnisse zusammen.“ genügt, dass alle mucksmäuschenstill sind. Verblüffend.

Ich hab die Idee mal weitererzählt, und einige erste Reaktionen waren: „Das ist ja Konditionierung!“ Ich habe mich auch zunächst gefragt, ob dieses Ritual in der Hochschullehre angemessen ist und ob es sich nicht um „Dressur“ handelt. Aber: Es ist ein wirklich effektives Verfahren, um einen schnellen Phasenwechsel zu gewährleisten, und man gewinnt wertvolle Lern- und Diskussionszeit. Und ganz wichtig: Nerven werden geschont.

Wie seht ihr das?

Hat ein ehemaliger Offizier der Bundeswehr, der jetzt Mathematik studiert, einen speziellen Blick auf sein Studium? Stephan Goldammer schaut durch den universitären Pulverdampf. Schon seit längerer Zeit beschäftigt er sich mit dem Thema eLearning, und zur Ergänzung für sein vor Ort stattfindendes Studium nutzt er Vorlesungsvideos aus dem Internet. Vor einiger Zeit hat Stephan eine Mail mit zahlreichen Ideen an mich gesendet. Ich habe ihn gefragt, ob er diese Ideen nicht als Gastblogbeitrag verfassen möchte. Und was soll ich sagen: Oberleutnant Goldammer erstattet Lagebericht! Jetzt heißt es: Still gestanden! 🙂

Wir schreiben das Jahr 2063. Dank eLearning sind schlechte Vorlesungen ausgestorben und nur noch im Museum zu finden. Historiker berichten über vergangene Zeiten, über monotone, langatmige Vorträge, unverständliche Folien und verworrene Präsentationen, aber man kann es nicht glauben. So habt ihr früher studiert? Wie habt ihr das ausgehalten?

Zurück in die Gegenwart. Erste Abschnitte auf der eBaustelle sind fertig, aber ein nüchterner Blick reicht, um zu sehen: Bis zum Paradies ist es noch weit. Viele Fragen sind offen. Kann man durch eLearning aus einer schlechten eine gute Vorlesung machen? Kann technisch intelligent konstruiertes eLearning zu einer fortwährenden, automatischen Verbesserung der Lehre führen? Kann eLearning die Basis für lebenslanges Lernen schaffen, und wie kann die Politik hilfreiche Unterstützung leisten? Einige Antworten auf diese Fragen mögen vielleicht als Spinnerei erscheinen, könnten aber schon bald Wirklichkeit werden. Die helle Seite der dunklen Seite, ein bisher gänzlich unbekannter Prof. Spinnagel, hat mich gebeten, mal auf den synaptischen Putz zu hauen und allen Spinnereien freien Lauf zu lassen.

eVorlesung: Wahrscheinlich wird es an der Hochschule vorerst auf das Modell „Klassische Vorlesung plus Videoaufzeichnung“ hinauslaufen. Lehrmethoden wie die umgedrehte Vorlesung werden dem Großteil der Dozenten wohl noch zu exotisch sein. Der Dozenten-Tanker hat gern ruhiges Fahrwasser und bewegt sich nicht so schnell. Vorteil der (rein passiven) Videoaufzeichnung: Der Vortragende braucht erst einmal gar nichts zu ändern (psychologisch geschickt), bekommt aber über Jahre hinweg beweiskräftiges Feedback (Kollegen, Studenten, Externe, YouTuber, Klick-Rankings) und kann dann nach und nach sich und seine Vorlesung anpassen. „Der X aus Y erklärt das aber viel besser!“, dürfte wohl keinen Dozenten kalt lassen. Fehlerhafte Begriffsverwendungen oder schwammige, ungenaue Definitionen im jeweiligen Fachgebiet fallen viel leichter auf (und würden möglicherweise als lange mitgeschleppter „Ballast“ abgeworfen). Steter Tropfen höhlt den Stein, so gesehen kann ein sanft vor sich hin plätschernder Strom aus Online-Kommentaren hilfreicher sein als der gute alte pädagogisch-ballistische Ratschlag. Hält ein Dozent auch dieses Feedback in homöopathischen Dosen nicht aus, bleibt ihm natürlich der psychologische Notausgang: Stecker raus.

FAQ: Die folgende Idee stelle ich mir vor wie einen Feedback-Regelkreis, der sich selbst steuert und verbessert. Für jedes Vorlesungsvideo wird ein Frage-Button angeboten. Dadurch wird man direkt mit einem Chatpartner (Tutor) verbunden, der die Frage live beantwortet (eine Art 24-h-Hotline). Der Tutor formuliert anhand aller eingehenden Fragen eine FAQ-Liste. Diese wird unter dem Video zur Verfügung gestellt, wodurch die häufigsten, immer wiederkehrenden Fragen direkt beantwortet werden. Am Ende des Semesters schaut der Professor über die FAQs und versucht diese offenen Fragen in die Vorlesung mit einzubauen und zu beantworten. Im Idealfall würde nach endlich vielen Durchgängen die (aus Studentensicht) perfekte Vorlesung herauskommen.

Feedbackstatistik: Die nächste Idee ermöglicht eine einfache und effiziente Auswertung einer Videoaufzeichnung. Für jedes Vorlesungsvideo werden zwei Buttons angeboten: ein roter und ein grüner oder wahlweise auch die Tasten Plus und Minus. Sobald der Student die Erklärungen des Dozenten nicht versteht, kann er den roten Button drücken. Versteht er etwas besonders gut (Aha-Effekt), kann er Grün drücken. Im Unterschied zu einer normalen Bewertung, wie sie bei YouTube oder Facebook üblich ist („Gefällt mir“), kann man diesen Button über die gesamte Laufzeit des Videos mehrmals drücken. Die Daten werden statistisch ausgewertet. Ein roter Peak würde auf eine besonders unverständliche Erklärung hinweisen. Der Dozent kann sich dann überlegen, warum viele Studenten an dieser Stelle des Videos seine Erklärungen nicht verstehen. Das Diagramm zum Auswerten wäre sehr einfach aufgebaut: Die Laufzeit des Videos wird verbunden mit unterschiedlich hohen grünen und roten Balken, fertig. Erlaubt man auch Studenten eine Einsicht in das Diagramm, wäre es möglich zu sehen, dass man nicht der Einzige ist, der genau an dieser Stelle „nichts versteht“.

Verdrehung: Im Kontext von Online-Vorlesungen entscheidet nicht mehr der Dozent, ob er gut erklären kann, sondern der Student. Prof. X aus Dortmund kann gut Mengenlehre vermitteln, ist aber schlecht im Erklären von Logik. Bei Logik ist Prof. Y aus Hamburg gut im Erklären, der hat aber wiederum in Algebra seine Schwächen. So kann sich jeder Student seinen Online-Vorlesungsbaukasten zusammenstellen. Vielleicht bildet sich auch eine „Hall of Fame“ der besten Videos. Die Prüfungen bleiben natürlich gleich (schwer), wie gehabt. Die fachliche Kompetenz des Dozenten steht außer Frage, aber ob jemand erklären kann, kann letztlich nur der Zuhörer feststellen. Leider ist der Schüler heute (noch) an den „kann-nicht-gut-erklären“ Lehrer gefesselt. Lehrer wechseln impossible => Frust beim Schüler. Wenn alle Vorlesungen und Unterrichtseinheiten im Netz stehen, kann der Schüler direkt evaluieren, wer es am besten erklärt. Ein Student kann nicht fünf Jahre warten, bis die üblichen, bürokratischen Evaluierungsprozesse minimale Veränderungen bewirken (wenn überhaupt). Diesen Aspekt von eLearning könnte man Flipped-Evaluation nennen. Flipped deshalb, weil der Schalter umgelegt wird von (fast) unwirksamer zu wirksamer Evaluation. Sich wirksam zu fühlen ist ein wichtiger Faktor der Motivation. Lassen wir doch den Deckel entscheiden, welcher Topf ihn begeistert. Fünf Jahre didaktische Kohlsuppe schmeckt nicht jedem.

Zeit: Ein neues Axiom in der Bildung. Schüler und Lehrer müssen sich nicht zeitgleich treffen. Man könnte noch weiter gehen: Der Lehrer muss im Prinzip gar nicht mehr am Leben sein. Eine Vorlesung von Hilbert, Einstein oder Turing wäre auch heute interessant. Wenn Verstorbene eine bestimmte Sache besonders gut erklären können, werden auch alte Vorlesungen nützlich sein. (Einschub: Wo gibt es eigentlich die älteste auf Video aufgezeichnete Vorlesung?) Durch eLearning muss der Schüler seine Konzentrationsfähigkeit nicht mehr an den Rhythmus des Lehrers oder an den Mittelwert der Klasse anpassen. Jeder lernt in seiner eigenen Geschwindigkeit und seiner eigenen Zeit. Die zeitliche Entkoppelung von Lehrer und Schüler verhindert, dass Schüler nach zehn Minuten Mathematikunterricht gedanklich aussteigen, weil sie den Erklärungen nicht mehr folgen können. Online kann ich den Informationskuchen in kleine Häppchen zerteilen, bei der Vorlesung im Hörsaal fliegt mir eine Informationstorte ins Gesicht. eLearning ist, was verhindert, dass alles auf einmal passiert.

Methode: Welches die geeignete Lehrmethode ist, werden die Zuseher (online) wahrscheinlich schneller entscheiden als man mit Studien und Forschung hinterherkommt. Vorschlag: Eine einzelne Standard-Grundlagenvorlesung („Vollständige Induktion“) wird mehrfach aufgezeichnet. Sie bleibt dabei fachlich und inhaltlich gleich, aber die Lehrmethode wechselt. Über die Klickzahlen oder Kommentare könnte man herausfinden, welche Methode besonders gerne angenommen wird. YouTube als Online-Labor der Pädagogik. Dieser Ansatz könnte nutzbringende Erkenntnisse liefern, bei Teilen der pädagogischen Forschung habe ich dagegen den Eindruck, sie gibt Antworten auf Fragen, die keiner mehr stellt. Ich würde mir wünschen, dass man die didaktische Widerlegungshoheit (im Popperschen Sinne) in die Hände der Schüler und Studenten legt. War es gut oder schlecht erklärt, falsifiziert der Student, nicht der Dozent. Oh, rüttle ich hier gerade an einem Grundpfeiler? 🙂 Mit eLearning bekommt der Student wirksame Mittel, um seine Lebenszeit nicht in aus didaktischer Perspektive mittelalterlich anmutenden Vorlesungen absitzen zu müssen. Wer schlecht erklärt, wird weggeklickt, wer gut erklärt, wird angeklickt. Wenn wir in der Universitätsbibliothek ein unverständliches Buch aus dem Regal ziehen, legen wir es zurück und nehmen ein besseres. Bald wird es mit Vorlesungen ähnlich sein.

Prüfung: Ein weiterer Forschungsansatz wäre, vor einer Prüfung die Studenten zu fragen, welche Dozenten und Lehrmethoden sie (zusätzlich zur normalen Vorlesung) im Netz genutzt haben. Im Anschluss analysiert man, wie die Angaben mit den Prüfungsnoten korrelieren. Auf die Ergebnisse wäre ich sehr gespannt.

Wunschvorlesung: Einmal pro Jahr dürfen Studenten (oder Externe) eine Wunschvorlesung wählen. Man stellt (sehr viele) Themen zur Auswahl und lässt abstimmen. Man könnte hier auch neue methodische Konzepte ausprobieren und danach das Feedback auswerten.

Mathematikvorlesung: Ein unkonventioneller Einstieg in die (wissenschaftliche) Mathematik könnte „Die formelfreie Mathematikvorlesung“ sein. Thema: „Warum ist die Mathematik axiomatisch aufgebaut?“ Es geht also um die interessante Frage: „Wo ist der Urknall der Mathematik … und was war davor?“ oder „Wie gebe ich einem besorgten Studenten die Sicherheit, dass das Fundament der Mathematik tragfähig ist?“ – „Machen wir seit 3000 Jahren so, ist bisher immer gut gegangen!“ zählt nicht. 🙂 Im Schulunterricht ist man immer „mittendrin“ in der Mathematik (Bruchrechnen, Addition, Differentialrechnung), aber es wird nicht erklärt, wo der Anfang ist, an dem alles „losgeht“. Und die noch spannendere Frage, was vor dem Anfang war, wird leider auch nicht beantwortet. Ist das Gebäude der Mathematik auf Sand oder auf Beton gebaut? Sind die Axiome fest genug, um Einsturzsicherheit zu gewährleisten? Solche Gedanken könnte man in diese Vorlesung hineinbringen. Hier kann ich mir auch eine interessante Diskussion im aktiven Plenum vorstellen.

Edelstein: Online-Vorlesungen werden zu einer öffentlichen Visitenkarte des Dozenten. Sicher für viele ein Ansporn, sich zu verbessern. Die Vorlesung als ein Edelstein, der ständiger Pflege und Verbesserung bedarf, um in den Augen der anderen zu funkeln. Zeige mir deine Online-Vorlesung und ich sage dir, wer du bist. Eine wissenschaftliche eVorlesung bleibt dabei der wichtige, feste Anker im großen Online-Meer aus Halb- und Viertelwissen.

Wikipedia: Wissenschaftler an der Hochschule könnten durch Wikipedia ihre Erkenntnisse (leicht zugänglich) an die Allgemeinheit weitergeben. Den Elfenbeinturm hochzulaufen, um persönlich das Wissen abzuholen, ist für viele Menschen zeitlich nicht möglich. Vorschlag: An einem Tag im Jahr wird an der Hochschule der „Wikipedia-Tag“ veranstaltet. An diesem Tag werden alle wissenschaftlichen Mitarbeiter und Professoren gebeten, freiwillig ihr Wissen in die Wikipedia zu tippen. Wenn genügend Hochschulen mitmachen, würde das Niveau von Wikipedia enorm steigen und alle können daran teilhaben. Gehen wir noch einen Schritt weiter: Warum nach Weltspartag, Weltfrauentag & Co. nicht auch einen Weltwikipediatag einführen?

Grundeinkommen: Seit zwei Jahren setze ich mich mit der Thematik „Bedingungsloses Grundeinkommen“ auseinander. Für Studenten würde sich einiges ändern, da BAföG, Studienkredite, Büchergeld (und anderer bürokratischer Kleinkram) wegfallen und (für alle) durch ein lebenslanges (bescheidenes, aber menschenwürdiges) Grundeinkommen ersetzt werden würden. Das Grundeinkommen ist ein finanzieller Sockel, der (ohne Bürokratie, ohne Formulare) lebenslang nicht unterschritten werden kann. Es ist die unbefristete, unkündbare Stelle im Leben. Lebenslanges Lernen wäre dann nicht nur ein politisches Motto, sondern wirklich umsetzbar. Ohne existenzielle Ängste kann Lernen und Ideenteilen richtig Spaß machen. Finanzierbar ist das Grundeinkommen, weil es nicht obendrauf kommt, sondern in bereits bestehende Einkommen integriert wird.

Wer von der ganzen Spinnerei gestresst ist, entspannt sich hier oder hier.

Um es mit Douglas Adams zu sagen: „Dozenten haben mit 42 die Antwort, aber die Berechnung der Frage liegt bei den Studenten.“ Diese erhalten durch eLearning ein demokratisches Verfahren, entscheiden aber nicht über den fachlichen Inhalt (Algebra bleibt Algebra), sondern über das Erklärpotenzial. Aber funktioniert ein Konzept, in dem Studenten auf einmal Nein sagen können? Gärt es tief in der Dozentenseele, wenn die seit 30 Jahren gleich gehaltene Vorlesung (didaktisch auf dem Stand von vor 300 Jahren) online keiner mehr aushält, weil sie noch nie jemand ausgehalten hat?

Kommando von dunkelmunkel: „Rührt Euch und Wegtreten in den Kommentarbereich!“

Flipped Classroom nur ein Übergangsmodell?

Veröffentlicht: Samstag, Dezember 15, 2012 in FlippedClassroom
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Die umgedrehte Mathematikvorlesung ist ein prima Konzept: Studierende schauen sich die Vorlesung zu Hause auf Video an und kommen vorbereitet ins Plenum, in dem dann genug Zeit zur Verfügung steht, um Fragen zu klären, zu diskutieren und gemeinsam Probleme zu lösen. Präsenz erhält dadurch eine andere Bedeutung als in klassischen Vorlesungen: Man kommt, um mitzuarbeiten, und nicht, um zuzuhören. Studierende finden das Konzept überwiegend prima, und ich auch. Verbesserungsbedarf gibt es aber immer: Im laufenden Semester versuche ich, die Vorbereitung (Videos angucken) zu optimieren. Es besteht nämlich die Gefahr, dass die Videos  nur beiläufig angesehen, aber nicht „durchgearbeitet“ werden. Daher habe ich mich durch Methoden von Jürgen Handke und Jörn Loviscach anregen lassen und habe jetzt Stützstrukturen um die Videos drumrumgebastelt:

  1. Es werden die Lernziele explizit angegeben.
  2. Es wird ein Worksheet (Lückenskript) zur Verfügung gestellt, das ausgedruckt und beim Ansehen ausgefüllt werden soll. Dabei handelt es sich, wenn man so will,  um einen vorstrukturierten Vorlesungsmitschrieb. (Ist im Prinzip eine ganz alte Idee; das hat auch mein Doktorvater Herbert Löthe früher schon gemacht, aber irgendwie bin ich selbst nie so richtig auf die Idee gekommen, das zu tun).
  3. Auf jedem Worksheet gibt es unten einen Bereich, in dem die Studierenden Fragen aus den Videos notieren sollen, die sie ins Plenum mitbringen können (Studierende hatten berichtet, dass sie ihre Fragen bis zum Plenum wieder vergessen; wofür man alles Stützen braucht :-)).
  4. Ich füge Quiz-Aufgaben zur Selbstüberprüfung hinzu, die ich mit learningapps.org (eine Entwicklung von Michael Hielscher und Kollegen von der PH Bern) erstelle und dort auch die Quiz-Aufgaben in Youtube-Videos einbetten kann (schöne Sache).

Der Video-Input zu Relationen ist ein ganz gutes Beispiel, das veranschaulicht, was ich meine. Und das Konzept „Flipped Classroom“ entwickelt sich für mich tatsächlich zu so etwas wie einer total ausgefeilten, perfekt durchgestylten Methode.

Aber ist das das, was ich will?

Seit einiger Zeit hab ich diesbezüglich schon ein gewisses Unbehagen (links unten, gleich zwischen Magen und Milz). Denn: Das ganze Konzept ist sehr stark „inputorientiert“, also: Ich gebe Input per Videos, anschließend üben die Studierenden das, was sie in den Videos gesehen haben. Einführung, Übung. Einführung, Übung. Einführung, Übung. Mathematikdidaktisch ist das eigentlich eher dritte Reihe. Im Projekt SAiL-M waren wir da schon bezüglich der Aufgaben weiter: Hier gab es auch zahlreiche offene Aufgaben, in denen nicht nur geübt wurde, sondern in denen umfassende eigene Erfahrungen und Entdeckungen gemacht werden konnten, bevor irgendwie überhaupt ein Wort des Dozenten über den Inhalt gefallen war. Induktives Vorgehen nennt man so etwas, oder Erfahrungslernen. Ich versuche zwar, diese Aufgaben im Rahmen der umgedrehten Mathevorlesung auch einzubinden, und zwar indem Studierenden diese Art Aufgaben bearbeiten sollen, bevor sie den Video-Input zum Thema ansehen, aber das Unbehagen bleibt trotzdem: Die Videos sind das Maß aller Dinge. Egal, welche Erfahrungen gemacht wurden, in den Videos wird gesagt, wie es „richtig“ geht. Die eigenen Erfahrungen und die interessanten Entdeckungen, alle beugen sich voller Respekt vor der fertigen Mathematik. Welchen Wert haben meine ganz eigenen Entdeckungen, wenn ich anschließend ein Video gucke, in dem darin gar nicht darauf eingegangen wird, und der Dozent stattdessen einfach das kanonische Wissen präsentiert?

Heute habe ich Peter Baireuther einen Besuch abgestattet. Peter ist Professor für Mathematikdidaktik an der PH Weingarten, und er hat mich vor einiger Zeit angeschrieben und ein paar kritische Punkte zu meiner Veranstaltung ziemlich deutlich geäußert. Peter und ich hatten damals vereinbart, dass wir uns mal zusammensetzen und darüber sprechen. Heute war es so weit. Was für ein Luxus! Einen Tag lang mit einem Kollegen durch die schneeverschneite Landschaft in Weingarten spazieren und über Veranstaltungskonzepte für Mathematikvorlesungen sprechen! Das war ein äußerst wertvolles Arbeitsgespräch, und ich finde, es sollte mehr solche Gelegenheiten geben, bzw.: Man sollte sich mehr Zeit für solche Gespräche nehmen. Ähnliche Kritik an meiner Veranstaltung (siehen unten) wurde zwar bereits z.B. von *m.g.* und Jörn Loviscach geäußert, aber im Alltag nimmt man die Kritik vielleicht nicht so ernsthaft und umfassend auf, wie man das eigentlich sollte. Heute hat sich tatsächlich für mich vieles von der Kritik verdichtet, nicht zuletzt auch deswegen, weil Peter und ich heute die Gelegenheiten hatten, einen ganze Nachmittag gebündelt zu diskutieren, und das in einem ganz anderen Umfeld als dem, das ich gewohnt bin.

Peters Kritikpunkte bezogen sich auf zwei Dinge: 1) die Inhalte meiner Vorlesung „Mathematische Grundlagen 1“ und 2) die methodische Herangehensweise. Peters Hauptfragen sind: Weshalb führe ich die Studierenden systematisch in die Mengenlehre, in den Begriff „Relation“ und „Funktion“ ein, weshalb in die Aussagenlogik? (Ähnlich neulich die Frage von Jörn Loviscach auf Google+, weshalb ich eigentlich vollständige Induktion mache; eine Frage, gegen die ich mich zunächst innerlich aufgebäumt habe, die aber durchaus berechtigt ist.) Wem hilft diese Systematik? Die Studierenden werden später Lehrerinnen und Lehrer, keine Mathematiker. Sie sollen Lernprozesse beim Schülerinnen und Schülern begleiten, und nicht diese in die Fachsystematik einführen. Also weshalb provoziere ich nicht dieselben Lernprozesse bei meinen Studenten und führe sie stattdessen in die Fachsystematik ein? Was hilft einem Studenten die Fachsystematik, wenn er selbst noch nicht auf einen entsprechenden Erfahrungsschatz zurückgreifen kann, der damit systematisiert wird? Was hilft es einem Studenten, wenn er (relativ erfahrungsarm) die Eigenschaften Reflexivität, Symmetrie und Transitivität bei Äquivalenzrelationen anwenden kann? Wozu braucht er das später? Wozu braucht er überhaupt den Begriff? Was nützt einem Lehrer der Begriff der Äquivalenzrelation? Peters Standpunkt: Die Studierenden sollen vielmehr exemplarisch eigene Erfahrungen machen und systematisieren lernen. Sie sollen lernen, was es bedeutet, mathematisch tätig zu sein, und nicht „Mathematik“ lernen. Er gestaltet daher seine Veranstaltungen radikal erfahrungsbasiert. Eine zu meiner Vorlesung vergleichbare Veranstaltung von ihm ist Denken in Zahlen und Strukturen. Das Grundprinzip: Die ganze Veranstaltung ist nicht inputbasiert, sondern aufgabenbasiert (zahlreiche Aufgaben sind unter dem Link zu finden). Die Studierenden bekommen reichhaltige Aufgaben, in denen sie vielfältige eigene Entdeckungen machen können: zu Spiegelzahlen, Stellenwertsystemen, Quadratzahlen, Zahlzerlegungen, Primzahlen usw. Mit diesen Erfahrungen kommen sie in die „Vorlesung“ (die ebenso keine ist), und dort werden ihre Erfahrungen besprochen, gemeinsam systematisiert, und dann die Aufgaben für die nächste Woche vorbesprochen. Wenn man so will: Flipped Classroom, ohne Videos, rein aufgabenbasiert. Es gibt praktisch keine Lehrvorträge. Geprüft wird am Ende der Vorlesung mündlich, die Studierenden präsentieren zu bestimmten Themen ihre Entdeckungen, dann wird vertiefend nachgefragt. In der gesamten Veranstaltung gibt es keine systematische Einführung in die Mengenlehre usw. Peters Argument: Die Mathematik hat mehrere tausend Jahre gebraucht, die Mengenlehre als Abstraktion hervorzubringen. Weshalb sollten wir diese Abstraktion an den Anfang stellen? Weshalb sollten wir die Abstraktion „Relation“ einführen? Oder „Funktion“? Wem hilft das? Lassen wir die Studierenden lieber Aufgaben bearbeiten, in denen sich sich entdeckend mit funktionalen Zusammenhängen befassen. Lasst uns „Begriffe“ einführen, wenn Studierende „begriffen“ haben. Nicht vorher. Oder, lasst sie uns weglassen. Wozu, wenn bereits begriffen wurde? Und letztlich geht es um den Prozess zu lernen, wie man in reichhaltigen Lernsituationen begreift. In die Aussagenlogik einzuführen kostet unnötig Zeit, und man erlernt eine „Sprache“, die ohne Fleisch versehen ein Werkzeug ist, dass die Studierenden nicht fachmännisch anwenden können. Man gibt ihnen Werkzeuge an die Hand, deren Wirkungsweise sie nicht durchdringen – das zeigt seine Erfahrung (und letztlich auch meine). Also lassen wir die Studierenden lieber Situationen durchdringen und verzichten auf den Formalismus, der niemandem nützt und letztlich vielleicht sogar schädlich ist, nämlich dann, wenn die Studierenden eine ähnliche Formalismusliebe in der Schule pflegen.

An dieser Stelle stehe ich mit meiner umgedrehten Mathevorlesung, in der ich schön feinstsäuberlich in Aussagenlogik usw. einführe, ziemlich peinlich berührt da und finde das eigentlich ziemlich doof, was ich da mache. Näher betrachtet stellt sich mir die Situation so dar: Der Flipped Classroom ist eine prima Methode, um von einer traditionellen Voll-Frontal-Veranstaltung in eine Form zu wechseln, in der mehr Interaktionsmöglichkeit in der Präsenzveranstaltung geschaffen wird. Zum Aufbrechen traditioneller Formate ist das ganz prima, und sicher auch eine super Methode, um Dozenten, die ihre Vorlesung lieb gewonnen haben, von mehr Studierendenaktivität zu überzeugen, ohne dabei auf ihre Vorträge verzichten zu müssen. Also, für hochschuldidaktische Fortbildungen eine prima Sache mit dem Ziel, Dozenten davon zu überzeugen, mit der Umstellung ihrer Veranstaltungen „mal einfach und ohne viel Aufwand anzufangen“.

Stehenbleiben dürfen wir dabei aber nicht. Obwohl ich meine Vorlesung noch nicht komplett mit Worksheets usw. für den Einsatz im Flipped Classroom optimiert habe, denke ich seit heute, dass es das eigentlich „nicht sein kann“. Vor einem so radikalen Umstellungsschritt, wie ihn Peter Baireuther vollzogen hat, schrecke ich allerdings zurück: Das Konzept verursacht bei Studierenden vermutlich eine größere Unsicherheit (was prinzipiell nicht schlecht ist, wenn es darum geht, erlernte starre Muster des Mathematiklernens loszuwerden), allerdings gibt es bei mir am Ende des Moduls eine Klausur, und dieses Prüfungsformat passt nicht so recht zu Peters Veranstaltungskonzept. Gibt es eine Mischung zwischen Flipped Classroom mit Videos und der aufgabenorientierten Herangehensweise? Kann man Videos nur „für Bedarf“ zur Verfügung stellen? Kann man Flipped-Classroom-Einheiten reduzieren/gezielter einsetzen? Wann passt der Flipped Classroom, wann nicht? Anders gefragt: Wann sind Demonstrationen sinnvoll, wann sollte man als Dozent „mal was zeigen“, wann lieber nicht? Kann man das überhaupt kombinieren, oder wird letztlich nur das als wichtig erachtet, was in der Klausur abgeprüft werden kann?  Ziemlich viel Stoff für mich zum Nachdenken.

Wie denkt ihr darüber?

Kann man Äpfel mit Birnen vergleichen?

Veröffentlicht: Mittwoch, August 8, 2012 in Vorlesungsaufzeichnung
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Klar kann man das! Äpfel sind rund, Birnen birnenförmig. Äpfel können rot sein, Birnen nicht. Und Äpfel schmecken mir besser als Birnen. Also, man kann.

Okay, Spaß beiseite. Das Äpfel-Birnen-Bild soll uns natürlich daran erinnern, dass man bei Vergleichen immer acht geben muss, ob das zu Vergleichende auch vergleichbar ist. Man kann dies aber auch anders herum sehen: Wenn man sich der Grenzen der Vergleichbarkeit bewusst ist, dann kann man trotzdem vergleichen, aber eben vorsichtiger und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Bedingungen.

Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf, wenn ich gefragt werde, ob denn die Studierenden durch das Konzept der umgedrehten Mathematikvorlesung denn nun auch besser in den Klausuren abschneiden. Eine berechtigte Frage, wie ich finde. Allerdings auch eine schwer zu beantwortende. Wenn man dies streng wissenschaftlich untersuchen möchte, kommt man schnell entweder an Grenzen der Ethik oder der Übertragbarkeit. Denn: Wenn ich wirklich einen Unterschied zweier Methoden untersuchen wollte, müsste ich streng genommen im selben Semester die Studierenden einer Veranstaltung in zwei Gruppen einteilen (randomisiert, d.h. zufällig zugeteilt, versteht sich): die eine Gruppe besucht eine traditionelle Vorlesung, die andere die umgedrehte. Außerdem muss man sicher stellen, dass die traditionelle Gruppe nicht doch auf die Videos zugreift (also nix mit Youtube). Am besten sollten sich die Studierenden der beiden Gruppen auch während des Semesters nicht begegnen und nicht miteinander austauschen usw. Das ist schon sau schwer zu erreichen, naja, eigentlich unmöglich. Aber gesetzt den Fall, man bekommt das hin: Dann müssen ja beide Gruppen am Ende der Veranstaltung eine Prüfung ablegen, und ich habe eine Gruppe mit einer aus meiner Sicht schlechten Methode gelehrt. Das kann man nicht machen! Die Studierenden würden sich zurecht über eine ungleiche Behandlung beschweren. Ethisch ist das nicht vertretbar.

Das Problem könnte man umgehen, in dem man die Studierenden nur kurzfristig teilt (also z.B für eine Vorlesung) und dann gleich im Anschluss Unterschiede misst (beispielsweise durch einen Lernerfolgstest). Aber, was würde diese einmalige Geschichte aussagen über den Effekt der Umstellung einer gesamten Vorlesung? Eher nix. Das wären ja praktisch Laborbedingungen. Und außerdem wäre es keine richtige Prüfung, sondern „nur ein Fragebogen“ oder so. Die Ergebnisse sind also nur mit Fragezeichen versehen auf Realsituationen übertragbar. Man spricht dann von einer niedrigen externen Validität.

Man kann natürlich noch auf den Gedanken kommen, zwei unterschiedliche Lehrveranstaltungen z.B. an zwei unterschiedlichen Hochschulen herzunehmen und mit den unterschiedlichen Konzepten durchführen zu lassen. Aber: Neenee, kann man auch nicht machen, weil diese sich dann nicht nur durch die Methode unterscheiden, sondern auch durch die Hochschule, durch die Dozenten usw. Hier würde viel zu viel variiert werden! Der einzige relevante Unterschied zwischen beiden Gruppen darf nur die Methode sein, sonst nichts. Letztlich müsste man ganz viele Vorlesungen hernehmen und die eine Hälfte mit der einen und die andere Hälfte mit der anderen Methode lehren, damit sich die Unterschiede zwischen den Hochschulen und den Dozenten usw. auch gegenseitig aufheben. Aber wie bitte sollte man das organisieren?

Also, man sieht: Will man den Effekt des Umdrehens der Mathematikvorlesung auf den Lernerfolg untersuchen, handelt man sich jede Menge methodische Probleme ein. So, und jetzt kommen die Äpfel und die Birnen ins Spiel: Man kann ja trotzdem mal die Ergebnisse verschiedener Semester hernehmen und vergleichen, wohl wissend, dass diese sich mitunter drastisch auch durch andere Dinge als die Methode allein unterscheiden.

Ich habe mal die Klausurergebnisse der letzten vier Semester hergenommen und verglichen: ein Semester ohne Flipped-Classroom-Konzept, drei mit. Bevor ich euch jedoch die Ergebnisse vorstelle, beschreibe ich erst einmal, wodurch sich die einzelnen Semester unterscheiden:

  • Wintersemester 2010/2011: Hier habe ich noch eine klassische Vorlesung gehalten (allerdings parallel gleichzeitig aufgezeichnet). Nichtsdestotrotz: Die Studierenden haben hier nur eine traditionelle Vorlesung besuchen können.
  • Sommersemester 2011: In diesem Semester habe ich erstmals die Vorlesung umgedreht.
  • Wintersemester 2011/12: In diesem Semester habe ich wiederum die Vorlesung umgedreht, allerdings verbunden mit weiteren Schritten. Ich habe wesentlich stärker an die Selbstverantwortung der Studierenden appelliert, beispielsweise indem ich alles (Plenum, Übung, …) als Unterstützung bezeichnet habe, welche die Studierenden annehmen können, aber nicht müssen. Nichts war Pflicht.
    In diesem Semester hat sich zudem noch etwas anderes geändert, nämlich die Prüfungsordnung. In diesem Semester hatte ich noch (wenige) Studierende der alten PO in der Vorlesung, aber zusätzlich auch Studierende der neuen PO. Jetzt kommt der entscheidende Punkt: Studierende der neuen PO schreiben die Klausur erst nach ihrem zweiten Semester (der aktuelle Durchgang also nach dem Sommersemester 2012), während Studierende der alten PO die Klausur sofort am Ende des Semesters schreiben. Insofern haben am Ende des Semesters nur wenige Studierende der alten PO die Klausur geschrieben.
  • Sommersemester 2012: In diesem Semester habe ich die Vorlesung gar nicht gehalten, weil sie nicht im Vorlesungsverzeichnis vorgesehen war. Nichtsdestotrotz haben die Studierenden der neuen PO die Klausur am Ende des Semesters geschrieben, eben aber über die Inhalte von vor einem Semester. Ach ja, das ist auch noch ein Unterschied: Während die Inhalte meiner Vorlesung bei Studierenden der alten PO zu zwei Dritteln in die Gesamtprüfung eingehen, gehen in der neuen PO die Inhalte meiner Vorlesung nur zu einem Drittel ein. Sie schreiben eine Klausur über drei Teile (Didaktik, Arithmetik und Geometrie), und nur einer davon (Arithmetik) ist „meiner“.

So, genug Beschreibung der Situation, jetzt die Ergebnisse. Insgesamt waren jeweils 0 bis 60 Punkte zu erzielen (im Sommersemester 2012 nur 0 bis 30 Punkte, insofern habe ich die Ergebnisse hier der Vergleichbarkeit wegen auch auf maximal 60 Punkte normiert). In der folgenden Tabelle ist die Anzahl der Klausuren angegeben (N) und das jeweilige arithmetische Mittel der Punktzahlen:

Semester WiSe 10/11 SoSe 2011 WiSe 11/12 SoSe 2012
Anzahl (N) 62 59 18 34
Mittelwert 32,4 36,9 32,6 28,9

Die Verteilung der Ergebnisse lässt sich gut mit Boxplots visualisieren:

Punkte-Vergleich umgedrehte Mathevorlesung

Man sieht also: Noch nie waren die Ergebnisse so schlecht wie im letzten Semester. Eigentlich hätte ich mir natürlich gewünscht und auch vermutet, dass die Ergebnisse besser sind als sonst. Aber: Sie sind es nicht. Fraglich ist noch, ob sich die unterschiedlichen Semester überhaupt signifikant unterscheiden. Mit Hilfe einer Varianzanalyse und  anschließenden Post-Hoc-Tests kann man das herauskriegen. Hab ich gemacht, und folgendes kam heraus: Keine der drei Flipped-Classroom-Durchgänge unterscheidet sich im Ergebnis signifikant vom traditionellen Durchgang im Wintersemerster 2010/11, was letztlich heißt (wenn man sich rein auf dieses inferenzstatistische Ergebnis bezieht): Die Ergebnisse der umgedrehten Mathematikvorlesung sind nicht bedeutend besser, aber auch nicht bedeutend schlechter als die Ergebnisse in der traditionellen Vorlesung. Es gibt allerdings einen signifikanten Unterschied zwischen dem Sommersemester 2011 und dem Sommersemester 2012: Hier schneiden die Studenten im Sommersemester 2012 signifikant schlechter ab.Das heißt: zwei Flipped-Classroom-Durchgänge unterscheiden sich signifikant, was ich nicht erwartet hatte. Soweit die Statistik.

Auch wenn die Ergebnisse des Sommersemesters 2012 nicht signifikant schlechter sind als die im Wintersemester 2010/11, so sieht man in der Grafik trotzdem, dass die Verteilung der mittleren 50% (die „Box“) doch erheblich nach links verschoben ist, d.h.: Zufriedenstellend können die Ergebnisse keineswegs sein.

Bei all diesen Dingen müssen allerdings die folgenden Aspekte mit bedacht werden, die letztlich auch „mit Schuld“ an den Unterschieden sein können:

  • Es handelte sich natürlich nicht um dieselbe Klausur, sondern um unterschiedliche (wenn auch mit dem Anspruch der Vergleichbarkeit konzipierte).
  • Die Prüflinge im Sommersemester 2012 hatten verschärfte Bedingungen: Sie haben die Klausur über die Inhalte meiner Vorlesung (im vorausgehenden Wintersemester) ein Semester später geschrieben. Außerdem hat sie da nur noch ein Drittel gezählt, und die Geometrie ist mit einem Drittel zur Prüfung hinzugestoßen. Das heißt: Die Studierenden mussten neben dem Lernen der Didaktik (ein Drittel) und der Geometrie (ein Drittel) meine Vorlesung (Arithmetik) mit einem Semester Verzögerung auch noch zusätzlich lernen.
  • Diese Überlegung führt zu der Frage, was in dieser neuen, verschärften Situation geschehen wäre, wenn die Studierenden die Videos nicht gehabt hätten. Zumindest hätten sie sich nicht das ein oder andere per Video nochmals in Erinnerung rufen können. Eventuell wäre mein Klausurteil also noch schlechter ausgefallen.
  • Prüfungsergebnisse variieren immer von Semester zu Semester. Insofern wäre es auch mal interessant, Semestervergleiche anderer Veranstaltungen zum Vergleich heranziehen: Wie schwanken die Klausurergebnisse, wenn sich nichts auffälliges an den Randbedingungen ändert?

Also, versuch ich mal ein Fazit: Das aktuelle Klausurergebnis ist nicht zufriedenstellend. Nichtsdestotrotz kann man kaum sagen, dass es am Flipped-Classroom-Konzept liegt, dass es vergleichsweise schlecht ausgefallen ist. Schließlich war der Durchgang im Sommersemester 2011 der (zumindest trendmäßig) beste Durchgang – mit dem Konzept der umgedrehten Mathematikvorlesung! Trotzdem zeigt dieses Beispiel wieder einmal: Der Blick auf die nackten Daten ist heilsam. (Übrigens, wer ebenfalls einen Blick auf die Daten werfen möchte, hier sind sie).

Welche Konsequenzen zieht man nun daraus? Unter anderem folgende:

  • Ich muss mein Veranstaltungskonzept weiter verbessern, und zwar dahingehend, dass die Dinge nachhaltiger gelernt werden – das scheint ja das Manko im letzten Durchgang gewesen zu sein. Eine Strategie wird sein, die Verarbeitungstiefe beim Betrachten der Videos zu erhöhen, zum Beispiel durch Lückenskripte zum Ausfüllen und durch kleine Tests zwischendurch (formative Assessments), wie dies beispielsweise Handke und Loviscach machen.
  • Eine weitere Unterstützung der Prüfungsvorbereitung könnte sein, den Studierenden während ihres zweiten Semesters immer mal wieder kleine Aufgaben zur Arithmetik zu stellen (auch ohne Vorlesung), um sie bei der Stange zu halten.
  • Außerdem muss man noch in Betracht ziehen, dass zum Teil andere Dinge im Flipped-Classroom-Konzept gelernt werden als diejenigen, die abgeprüft werden (beispielsweise mehr Selbstständigkeit bei der Aneignung von Mathematik). Also, vielleicht müssen sich auch die Prüfungen (zumindest zum Teil) ändern?

Wie interpretiert ihr die Ergebnisse?