Die umgedrehte Mathematikvorlesung

Veröffentlicht: Sonntag, August 7, 2011 in Hochschuldidaktik, Vorlesungsaufzeichnung

Es ist immer wieder schön festzustellen, dass es Begriffe bzw. Konzepte gibt für etwas, das man tut, selbst wenn man diese bis dato noch nicht kannte. Man kann „das was man tut“ dann benennen, man kann sich auf einfache Weise darüber austauschen, man kann es abgrenzen gegen andere Konzepte. Man hat alle Vorteile, die Begriffe so mit sich bringen.

Mein neuester Lieblingsbegriff ist: the inverted classroom. (zu deutsch wohl umgedrehter Unterricht, aber bessere Übersetzungsvorschläge sind willkommen). Ursprünglich von @eisenmed und @martinkurz auf diesen Begriff aufmerksam gemacht, hatte ich ihm zunächst nicht viel Beachtung geschenkt. Bis gestern. Zurzeit schreibe ich an einem Artikel für einen Band über Hochschul-Mathematikdidaktik. Darin geht es um das Konzept, wie ich gerade Vorlesungsaufzeichnungen in Mathematikvorlesungen einsetze. Beim Lesen der Literatur (ja, ich komme tatsächlich wieder dazu) bin ich erneut auf diesen Begriff gestoßen und musste feststellen, dass das doch eigentlich genau das ist „was ich tue“.

Worum geht’s? Der Begriff inverted classroom besagt (auf Hochschulvorlesungen übertragen), dass diejenigen Dinge, die sonst in der Vorlesung stattfinden, nach außen verlagert werden, und das, was sonst außerhalb der Vorlesung stattfindet, in die Vorlesung verlagert wird (die damit keine Vorlesung im eigentlichen Sinne mehr ist, sondern mehr eine Plenumssitzung). Die Vorlesungsvideos werden von den Studierenden in Vorbereitung auf die Sizung angesehen. Die Sitzung selbst dient dann der aktiven, gemeinsamen Auseinandersetzung mit den Inhalten (gemeinsames Aufgabenlösen, Diskussionen, Vertiefung  bestimmter Inhalte, …). Dieses Konzept erscheint mir irgendwie total sinnig:

  • Ich sehe es schon lange nicht mehr ein, weshalb ich 200 Menschen zusammenrufen soll, um einen Vortrag zu halten, den ich schon ein paar Mal gehalten habe. Welch kostbare Zeit wird da verschwendet, welch wertvolle Gelegenheit ungenutzt gelassen! Warum sollen alle Studierenden gemeinsam in einem Raum zusammen kommen, um sich kollektiv in den Rezeptionsmodus zu begeben? Brauche ich den gemeinsamen Ort für diese Vermittlungs- und Rezeptionssituation? Wäre es nicht besser, dass wir – wenn wir schon mal alle zusammen in einem Raum sind –  uns dann direkt miteinander austauschen?
  • Wenn ich einen Vortrag in der Vorlesung halte, dann müssen alle im gleichen Tempo folgen. Hier ist nix mit individuellem Lerntempo, Individualisierung, innerer Differenzierung usw. Neee. Alle folgen schön brav im selben Tempo. Wenn jemand zwischendurch aussteigt: selber schuld! Dann gilt für ihn: Einfach alles abpinseln und zu Hause versuchen zu verstehen. Wäre es nicht besser, wenn jeder Lernende den Professor einfach zurückspulen könnte oder auf „Pause“ schalten könnte, wenn er mehr Zeit zum Durchdenken braucht?

Die Lösung ist wirklich simpel: Die Rezeptionssituation „nach außen“ verlagern, am besten vorverlagern (ähnlich wie Gabi Reinmanns Podcast-Vorlesung). Hier kann jeder in seinem eigenen Tempo rezipieren und durchdenken. Vorlesungsvideos eignen sich in Mathematik besonders gut dazu, weil man alle Schritte, Strategien und Schwierigkeiten erläutern kann und die Lernenden auch „gezwungen“ sind, die einzelnen Schritte langsam mitzuverfolgen. Ich habe nämlich schon einige Male versucht, das Lesen mathematischer Texte vorzuverlagern, und mir ist aufgefallen, dass die Studierenden die Texte zwar lesen, aber nicht durchdringen, sondern oft nur oberflächlich überfliegen.

In den Plenumssitzungen selbst werden dann Aufgaben gelöst (z.B. nach dem Think-Pair-Share-Prinzip oder im aktiven Plenum; siehe auch hier). Ich habe Zeit rumzulaufen, den Studierenden zu helfen, mir einen Eindruck zu verschaffen, worauf wir nochmal näher eingehen sollten usw. Und: Ich habe die ganze Vorlesungszeit dafür!

Im letzten Semester hab ich das in der Vorlesung Einführung in die Arithmetik ausprobiert, und  es hat auch ganz gut funktioniert. Im nächsten Semester mach ich das gleich nochmal, und dann wird’s auch ordentlich evaluiert. The inverted classroom bzw. die umgedrehte Mathematikvorlesung – ein äußerst sinnvolles Konzept.

Für Interessierte die Literatur:

Kommentare
  1. cakruse sagt:

    Sehr gute Sache, die ich auch den Lehrenden, die mich fragen, was sie denn „überhaupt Sinnvolles mit Videoaufzeichnungen machen können“ empfehle. Ich hab das damals kennengelernt bei Karsten Morisse von der FH (jetzt Hochschule) Osnabrück (http://www.ecs.hs-osnabrueck.de/morisse.html), er macht das dort wohl in der Informatik (oder hat es gemacht, als ich damals in Osnabrück war.)

  2. Der Fachbegriff im amerikanischen Bereich ist eher „flipped classroom“: http://goo.gl/sRKVA – ich möchte im neuen Schuljahr (startet hier in Hessen schon morgen) damit vorsichtig und behutsam experimentieren – vermutlich wird man Lernende sehr feinfühlig in diese Form hinein begleiten müssen, soll der Schuss nicht nach hinten losgehen…

  3. cspannagel sagt:

    @cakruse Danke für den Hinweis!

    @Matthias Heil Wie cool ist das denn – danke! „The flipped classroom“ eröffnet einem ja ein ganz neues Quellenfeld! Super!! Auf deine Erfahrungen in der Schule bin ich gespannt – ich habe aber das Gefühl, dass das in der Schule (wenn man Unterricht sowieso schon lernerzentriert sieht) auch eigentlich nix besonderes ist – hier gibt man doch schon seit jeher Texte zur Vorbereitung auf… Jetzt kommen aber mit Youtube und Co. neue mediale Möglichkeiten hinzu… Spannend!

  4. Michael Hohmann sagt:

    dieses und ähnliche Konzepte kenne ich aus der TZI/ TCI nach Ruth Cohn.

    infos: http://www.tzi.ch

    THX mi

  5. […] den Originalbeitrag weiterlesen: Die umgedrehte Mathematikvorlesung « chrisp's virtual comments Content/ Zitat Ende Klicken Sie einfach auf den Link unter "Beitrag weiterlesen", dann gelangen […]

  6. Jutta Dierberg sagt:

    super sache, ich freue mich mit allen, die davon profitieren können.

  7. cspannagel sagt:

    So, ich hab jetzt auch eine Themenausschreibung für wiss. Hausarbeiten draus gemacht. Wenn jemand Interesse hat (PH Heidelberg), einfach bei mir melden! http://www.ph-heidelberg.de/wp/spannagel/wiha/10_Der_umgedrehte_Unterricht.pdf

  8. Bin überrascht! Wir machen das schon seit einige Jahren in der linguistischen Lehre an der Uni Marburg mit dem „Virtual Linguistics Campus“ und haben es bisher auch (nicht so ganz treffend) „blended learning“ genannt – aber im Prinzip ist es umgedrehter Unterricht. Bei uns sind es allerdings „Virtual Sessions“, also modulare, multimediale Lerneinheiten, mit denen die Studierenden sich vorbereiten (statt Vorlesungsaufzeichungen) und im Unterricht werden dann Sprachbeispiele analysiert und diskutiert. Wir finden es super, dass man dadurch so viel Zeit für sinnvolle Auseinandersetzungen gewinnt und nicht zum 100. Mal erklärt wie Konsonanten produziert werden 🙂

  9. cspannagel sagt:

    @Anna Maria „dass man dadurch so viel Zeit für sinnvolle Auseinandersetzungen gewinnt und nicht zum 100. Mal erklärt wie Konsonanten produziert werden“ – Ja, genau. Mir fällt auch auf, wie oft ich dieses Prinzip schon angewendet habe. Ich habe z.B. auch Vorträge aufgezeichnet und online gestellt. Wenn möglich, verweise ich vor Gesprächen erst einmal auf diese Videos – dann kann man gemeinsam schon auf einer ganz anderen Ebene und mit einer größeren inhaltliche Tiefe anfangen zu sprechen, ohne dass alle „Basics“ immer wieder erzählt werden müssen. Sehr effizient 🙂

  10. […] Beiträge von Christian Spannagel auf  Twitter und dann in einem längeren Beitrag auch in seinem Blog. Mittlerweile gibt es auch einen einführenden Beitrag im ZUM-Wiki mit weiterführenden Links. Auch […]

  11. Klaus Meschede sagt:

    Schule … lernerzentrierter Unterricht …. neue mediale Möglichkeiten: natürlich youtube etc., aber im Schulbereich in der Sek.St. II bietet sich heute vor allem die Möglichkeit an, über LMS nicht nur Texte vorzugeben, sondern auch die Diskussion vorzubereiten und in Foren oder sogar individuell per Mail oder im Chat zu führen, ggf. auch nachbereitend weiterzutreiben. Das gelingt vor allem vor Klausuren und in der Abiturvorbereitung, man kommt da an der sekundären Motivation nicht ganz vorbei 🙂

  12. […] Wieso sollten sich die Lernenden den Stoff nicht zu Hause selbst aneignen, mit Podcasts, Videos (vielleicht sogar gemeinsam per Hangout), Planspiele für den Wirtschaftsunterricht, … In der Lehrveranstaltung bleibt dann Zeit zum Diskutieren und individuellen Coachen. In dieser Art macht da ja zum Beispiel Christian Spannagel mit seinen umgedrehten Mathematikvorlesungen. […]

  13. […] einer der letzten Sessions haben Christian Spannagel und ich spontan eine Session zum Thema Flipped Classroom angeboten. Hauptsächlich Christian hat vorgestellt, wie man mit Hilfe des Internets mit seinen […]

  14. […] hab ich mit Oliver Tacke eine gemeinsame Session zum Thema Flipped Classroom auf dem CorporateLearningCamp 2011 in Darmstadt angeboten. Oliver hat zunächst ein wenig zu Gunter […]

  15. Jürgen Handke sagt:

    In unserem neuen Buch: E-Learning und E-Teaching in der Hochschullehre (Februar: München: Oldenbourg) nimmt das Inverted Classroom Modell eine zentrale Position ein, weil wir das seit ca. 2004 in der Marburger Anglistik praktizieren. Mit riesigem Erfolg:

    a) keine Probleme mit hohen teilnehmerzahlen
    b) ziegruppenspezifische Unterfütterung von E-Bologna
    c) Weiterbildungsangebote ohne Präsenz

    Unsere Inhalte sind multimedial, videos setzen wir nur als zusätzliche Erklärungen ein. Die beiden im dauerbetrieb befindlichen Plattformen sind:

    http://www.linguistics-online.com
    http://www.vzl-hessen.de

  16. cspannagel sagt:

    @Jürgen Danke für die Hinweise!

  17. […] seinem Blog stellt Christian Spannagel seine Variante des Inverted Classroom vor. In dem Post „Die umgedrehte Mathematikvorlesung“ stellt er sein Konzept vor und erklärt, welche Vorteile es hat. Share this:TwitterFacebookGefällt […]

  18. […] Stichwörter des Jahres 2011! Christian Spannagel hat ja vor einigen Wochen auch schon von seiner “umgedrehten Mathematikvorlesung” berichtet und genau darum geht es: die klassischen Inhalte der Präsenzveranstaltung, also die […]

  19. […] ich in Maputo das Konzept der umgedrehten Mathematikvorlesung vorstellte, meinte ein Zuhörer dazu (sinngemäß): „Wenn man die Videos einmal aufzeichnet […]

  20. […] Fotografieren und an die Wand beamen von Arbeitsergebnissen oder das in seinem Beitrag zum inverted classroom zurückspulen des Professors, was das Lernen für Teilnehmende bereichert, wird dabei leider oft […]

  21. […] Manche sprechen auch vom „inverted classroom“. Was soll das sein? Mathematiker Christoph Spannagel versteht […]

  22. […] zu nutzen, braucht es eigentlich nicht viel. Christian Spannagel etwa stellt die Videos seiner umgedrehten Mathematikvorlesung einfach bei YouTube ein. Mit einer speziellen Plattform gäbe zwar sicher noch einen Zusatznutzen, […]

  23. […] via Forum in einem LMS geht, oder eine Mathematikvorlesung via Video (Methode vgl. z.B. flipped classroom) am Lernort zu Hause vorbereitet wird, das asynchrone Lernen nimmt ständig weiter zu. Fast jeder […]

  24. […] zu gehen. Wie es anders geht, beschreibt der Heidelberger Mathematiker Christian Spannagel bei seinen Überlegungen zum Thema flipped classroom. Warum nicht die ewig gleichen Einführungsbasics aufzeichnen und für […]

  25. […] Prof. Dr. Christian Spannagel wird am Mittwoch, den 27. Februar 2013 einen Workshop zu seinen Erfahrungen mit Videos, dem Inverted Classroom Model und der Neugestaltung der Präsenzphase vorstellen. Titel seines Workshops ist die Frage “Was mache ich eigentlich in der Präsenzveranstaltung?” Als Grundlage hierzu dienen ihm seine Lehrveranstaltungen in Mathematik und Informatik für Lehramts-Studenten, die er bereits seit über zwei Jahren aufzeichnet und mit stetig wachsendem Erfolg frei zugänglich auf der Plattform YouTube sowie in seinem Blogbereitstellt. […]

  26. […] Die umgedrehte Mathematikvorlesung von Professor Christian Spannagel […]

  27. […] via Forum in einem LMS geht, oder eine Mathematikvorlesung via Video (Methode vgl. z.B. flipped classroom) am Lernort zu Hause vorbereitet wird, das asynchrone Lernen nimmt ständig weiter zu. Fast jeder […]

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