Vorbemerkung: Dies ist ein Gastbeitrag von Sebastian Schmidt als Antwort auf den Gastbeitrag von Michael Gieding und auf meinen Beitrag. Auf dass die Diskussion nicht abreißen möge! 🙂
Danke Herr Gieding für Ihren wichtigen Beitrag zur Diskussion rund um den Flipped Classroom. Tatsächlich ist das Konzept mittlerweile so facettenreich umsetzbar, dass auch die Darstellung in ihrem Blogartikel wahrscheinlich in dem ein oder anderen Klassenzimmer in der ein oder anderen Unterrichtsstunde gefunden wird. Auch ich hatte ein paar derartige Stunden, die ich heute gelernt habe anders zu machen. Auch dank Ihrer Hilfe vor zwei Jahren, als wir uns via Mail ausführlich über das Thema Flipped Classroom unterhalten haben.
Unsere Diskussion hatte aber nicht mit dem Stand in Ihren Ausführungen geendet. In Ihrem Beitrag verwenden Sie die Begriffe „Flipped Classroom“, „FC“ und „Apologeten des FC“ beinahe im selben Satz wie die Kritik am Video und dem Nürnberger Trichter. Das finde ich sehr übertrieben und irritierend, wenn doch beinahe jeder Kollege in diesem Konzept das Video (auch in gehaltenen Workshops) nicht als den Mittelpunkt seiner Lehre betrachtet. Mein Unterricht besteht zu gefühlt 95% aus vielen anderen Methoden, (redundanten) Zugängen, Erfahrungen, etc. Das mag vielleicht bei dem ein oder anderen variieren, aber ich hoffe und denke, dass das Videolernen bei anderen „Flippern“ keinen deutlich höheren Anteil einnimmt.
Zu Ihrer Beschreibung eines standardisierten Mathematikunterrichts schreibe ich nichts mehr, das erkenne ich leider auch so. Ich würde sogar noch weiter gehen. Ich kenne Fälle, in denen der Frontalanteil weit über 10-20 Minuten geht und die SchülerInnen meist zu Hause zum ersten mal selbstständig arbeiten. Aber jetzt in medias res, ich werde konkret.
Das Trapez im Flipped Classroom
Sie haben vorzüglich ein Beispiel beschrieben, das man eigentlich nicht erklären sollte. Der Ablauf in meinem Flipped Classroom schaut bei diesem Thema wie folgt aus:
1. Vorbereitende Hausaufgabe mit einem Impulsvideo (AB vorher ausgeteilt)
2. Im Unterricht: Vorstellen der gefundenen Erkenntnisse, gemeinsame Erarbeitung der Eigenschaften dieses Vierecks und Versuch einer Namensgebung. Das alles möglichst ohne große Hilfe der Lehrkraft, sondern vom Schüler(in) moderiert (in den 5./6. Klassen moderiere ich noch häufig mit)
3. Ergebnissicherung via Skizzen an der Tafel (durch die Schüler) und Visualisierung via Beamer /Dokumentenkamera (keine Ergebnissicherung in Form eines Heftaufschriebs -> siehe Punkt 5)
4. Differenzierte Übungsphasen mit vertiefenden Aufgaben, weitere Zugänge durch weitere Aufgaben (redundante Zugänge, Gegenrepräsentanten in diesem Fall), Verwendung von Geogebra, bettermarks, Methoden wie Aktives Plenum bei komplexen Aufgaben, haptische Elemente zum (Be-)Greifen, und und und.
5. Hausaufgabe auf die nächste Stunde: Ergebnissicherung des Erlernten (Wiederholung, Nachholen verpasster Inhalte,…) via Video mit anschließdem Heftaufschrieb inklusiver ausstehender Fragen.
Ich meine hier dem entdeckenden Lernen gerecht zu werden und vor allem durch die Auslagerung der Erstbegegnung unterschiedlichere Zugänge zu erhalten, über die sich dann leichter diskutieren lässt. Dabei ist es wichtig, dass Fehler gemacht werden dürfen und keine Notengebung in diesem 2. Zeitraum stattfindet, höchstens im positiven Sinne.
Bei manchen anderen Themen lasse ich das Impulsvideo auch weg, dann lasse ich beispielsweise in Stamm-/Expertengruppen ein Thema bearbeiten (z.B. Verschiebung Normalparabel) und gehe quasi dann wie oben vor nur ohne den ersten Punkt. In den meisten Fällen setze ich ein Erklärvideo nur zur Nachbereitung ein. Da ist es für mich aber IMMER sinnvoll. Zu diesem Zeitpunkt wird eigentlich nicht mehr gelernt sondern das (hoffentlich) Verstandene ein zweites Mal gefestigt. Manche SchülerInnen haben sich gekonnt vor aller Arbeit gedrückt und erhalten auf diesem Weg wenigstens ein bisschen die Möglichkeit, Lücken zu schließen. Manche haben es zwar verstanden, brauchen aber noch einmal Sicherheit – vor allem vor Schulaufgaben. Seit zwei Jahren erstelle ich Videos nur zusammen mit Impulsvideos, davor hatte ich die Erklärvideos meist nur zur Nachbereitung aufgegeben. Die Videos, welche ich für YouTube erstelle, sind für alle konzipiert, dass es sowohl den Inhalt der Unterrichtsstunde wiederholt, gleichzeitig aber auch im Notfall den SchülerInnen gerecht wird, die durch Krankheit etc. Unterrichtsausfall die Erarbeitung verpasst haben. Das ist im heutigen Schulalltag leider so oft der Fall.
Didaktik should drive pupils‘ learning
Beim Lernen mit neuen Medien fand ich Jürgen Handkes Spruch passend wie gut reflektiert: Didactics must drive technology. Das trifft auf den Flipped Classroom, aber auch auf alle darin oder in anderen Kontexten eingesetzten Tools zu. Ich würde hier noch ergänzen: „Die Didaktik sollte das Lernen der SchülerInnen antreiben und vor allem sollte das Lernen der SchülerInnen die Didaktik antreiben.“
Ich habe tatsächlich das Trapez-Video auch schon als Vorbereitung auf den Unterricht aufgegeben, genauer gesagt ganz zu Beginn meiner Flip-Zeit:
(auf YouTube habe ich es erst ein Jahr später hochgeladen) Der Grund war ein einfacher. Vom Studium geprägt habe ich brav meinen Unterricht nach dem Prinzip des Entdeckendes Lernen aufgezogen. Die Essenz in der damaligen Matheklasse war, dass kaum einer an dem entdeckenden Prozess teilhaben wollte, obwohl ich den Anspruch an die damit verbundenen Aufgabenstellungen (die in anderen Klassen schon erfolgreich funktionierte) immer weiter herunter geschraubt hatte. Das ist der Punkt: Beim Entdeckenden Lernen vergisst man, dass zumindest ein ganz klein wenig Motivation dazu gehört. Ich weiß manchmal nicht ob Nicht-Praktiker wissen, mit welchen Aufmerksamkeitsstörungen und Arbeitshaltungen wir teilweise in heutigen Klassen zu kämpfen haben. Das hat sich in den letzten in meinen Augen dramatisch verschlechtert. Mit jeder Unterrichtsstunde wurde die Mitarbeit und dann auch die Leistung immer noch schlechter, die Ängste wuchsen und die Eltern rannten mir die Bude ein, ich würde es nicht anständig erklären. Also setzte ich auf eben solche Erklärvideos, auch als Vorbereitung. Das gab den SchülerInnen die notwendige Sicherheit, wenigstens die nachfolgenden Übungen selbstständig zu bearbeiten. Ich sage hier nicht, dass es nachhaltig war, auf diese Weise zu unterrichten, aber es gab mir die Möglichkeit, die SchülerInnen mit ins Boot zu holen, um sie zu späterer Zeit auf die wirkliche Reise durch die Mathematik zu nehmen. Den Aspekt, dass das abstrakte Denkvermögen nicht ausreicht, um dann Übungen dazu zu machen finde ich nicht passend. In diesen Fällen gibt es in jedem Buch sehr einfache Übungen zu Beginn, die dann in der Intension gesteigert werden und zur Vertiefung mit weiteren Zugängen beitragen. Ich sehe es so wie Christian Spannagel in seinem Blog: Flippig sein wenns passt und nicht immer ist der fachdidaktisch richtige Einsatz von Methoden der richtige für die Situation meiner SchülerInnen. Ich will erfolgreiche SchülerInnen, die sich Themen und Vertiefungen selbstständig erarbeiten können. Dazu motiviere ich, wenn es sein muss, auch einmal mit einem Erklärvideo. In einem meiner Blogartikel hatte ich mir dazu detaillierter Gedanken gemacht.
Wann ein Erklärvideo vorab, wann entdeckend?
Ich danke Christian Spannagel für die Differenzierung, wann er ein Erklärvideo zur Einführung einer Thematik einsetzt und wann es besser ist, entdeckend zu lehren. Für uns als Lehrer ist es nicht so einfach hier den richtigen Weg zu gehen und das richtig voneinander abzuwägen. Außerdem hat unsere Ausbildung nicht einen derartigen Tiefgang. Jeder hat seine Prägung im Studium, spätestens im Referendariat erhalten. Anders wie man sich das vielleicht von Didaktikern erhofft hat, hat man die Wirksamkeit von Methoden nicht selbstentdeckend erfahren sondern meist in langen Vorträgen erklärt bekommen. Dabei unterschieden sich leider die Ansichten vieler Didaktiker, man betrachte nur die Diskussion zur Kompetenzorientierung in zwei beinahe gegensätzlichen offenen Briefen von Mathematikprofessoren. Wir haben als Lehrer nicht die Zeit, neben den tatsächlich immer mehr werdenden Verpflichtungen neben dem Unterricht (kann man nicht da einmal die Stellschraube ansetzen?) auch noch jede wissenschaftliche Theorie zu einer Thematik in all unseren Fächern und dann noch der Pädagogik, der Medienpädagogik etc. etc. etc. zu erforschen, zu ergründen und in der Praxis anzuwenden. Ich habe 24 Deputatsstunden, davon dieses Jahr 14 Mathematikstunden, soll ich jedes Mal den aktuellen Stand der Wissenschaft bemühen, um dann erst stundenlang meinen Unterricht daraufhin vorzubereiten? Hier brauchen wir mehr Hand in Hand Arbeit mit den Wissenschaftlern an Universitäten, daher bin ich um jeden Input von Christian, aber auch Michael Gieding dankbar. So sammeln wir Lehrer immer wieder neue Idee, um vielleicht die SchülerInnen zu noch mehr Selbstständigkeit anzutreiben. Dabei funktionieren manche Sachen gut und manche Sachen eben nicht, obwohl es ein Wissenschaftler eben gerade als wirksam herausgefunden hat. Manchmal brauchen wir auch ein paar Jahre oder neue Impulse, um eine Wirksamkeit festzustellen. Manchmal wissen wir nicht einmal, warum etwas funktioniert oder warum nicht. Am Ende wollen wir aber Kinderaugen zum Strahlen bringen und nicht zum Weinen. Was hilft es mir, wenn ich mich an alle Theorien halte, die Leistung meiner Klasse aber dabei den Bach runter geht oder am Ende viele durchfallen müssen?
Fazit: Ich möchte selbstständig arbeitende SchülerInnen, die auch ein wenig an meinem Modell lernen. Die aber auch ohne meine Anleitung einen Wert im Fach Mathematik erhalten, auch wenn es neben den Kompetenzen am Ende doch um die Note geht. Das klappt für mich gut in meinem Flipped Classroom und wahrscheinlich in vielen anderen auch. Ich möchte weiterhin mit dem Potential von Videos meinen Unterricht gestalten und werde zu passender Zeit (abhängig von den SchülerInnen) wieder darauf verzichten. Aber vor allem möchte ich jeden Tag dazu lernen, was geht und was nicht geht. Dafür brauche ich die Wissenschaft an meiner Seite. Eine aggressive öffentliche Auseinandersetzung hat vor allem im Bildungsbereich in meinen Augen nur Verlierer. Ich will Gewinner!