Videos nicht zitierbar?

Veröffentlicht: Samstag, November 23, 2013 in OeffentlicherWissenschaftler, Wissenschaft

Aus der Reihe „Seltsame Gepflogenheiten der Wissenschaft“

Vorhin erhielt ich folgende Anfrage per Mail (wurde von mir nachträglich anonymisiert):

Sehr geehrter Herr Prof. Spannagel, ich arbeite gerade an meiner Bachelorthesis zum Thema XYZ. Bei meiner Recherche zu den mathematischen Grundlagen bin ich über Ihre Vorlesung zur Zahlentheorie bei Youtube gestoßen. Als erstes möchte ich Ihnen ein Kompliment aussprechen, da Sie diese sehr gut und verständlich erklärt haben. Mein Problem ist nun, dass ich diese Grundlagen gerne in meiner Arbeit zitieren möchte, da ich aber keine Videos zitieren kann/darf, ist meine Frage nun an Sie ob Sie eine Möglichkeit wissen, wie ich diese zitieren kann. Können Sie mir möglicherweise die Ursprungsquellen nennen oder haben Sie irgendeine Art der schriflichen Ausarbeitung, die ich zitieren könnte? Mit freundlichen Grüßen, Bettina Beispiel.

Jetzt frage ich mich: Weshalb sollte man keine Videos zitieren dürfen?

  • Vermutung 1: In Texten kann man schneller die zitierte Stelle finden als in Videos. Antwort: Nein, in Videos kann man die Stelle ebenfalls sekundengenau angeben.
  • Vermutung 2: Bei Texten ist das längerfristige Vorhandensein gewährleistet. Antwort: Ich habe schon öfter versucht, an zitierte Bücher ranzukommen, was bei manchen Büchern praktisch unmöglich ist. Schneller hab ich ein Youtube-Video aufgerufen. Außerdem kann man (des Nachweises wegen) Videos ja auch (je nach Plattform) runterladen oder per Screencast aufzeichnen, wenn man einen Beleg längerfristig vorweisen muss.
  • Vermutung 3: Informationen in Texten sind vertrauenswürdiger oder von höherer wissenschaftlicher Qualität als in Videos. Antwort: Weshalb sollte man einem Text von mir eher vertrauen als einem Video?

Wer wissenschaftlich redlich arbeitet, muss alle verwendeten Quellen anführen. Wenn man also Informationen aus Videos bezieht, muss man diese anführen. Also dürften Dozent_innen die Angabe von Videos als Quellen nicht verbieten, weil man sonst zum unredlichen wissenschaftlichen Arbeiten auffordert. Oder muss man die Aufforderung gar so verstehen, dass man Videos beim wissenschaftlichen Arbeiten gar nicht verwenden darf? Ich bin gespannt, wann bei einigen Kolleg_innen ankommt, dass wir uns mittlerweile im 21. Jahrhundert befinden, dem Zeitalter digitaler, multimedialer, weltweit jederzeit abrufbarer Informationen.

Die Zitierbarkeit einer Quelle ergibt sich nicht aus dem Medienformat, sondern aus der Glaubwürdigkeit der Darstellung und der mit einem wissenschaftlichen Blick beurteilten Qualität. In Büchern kann ebenso Mist stehen wie in Videos.

Bitte an meine Student_innen: Bitte verwendet ausgiebig Videos und zitiert daraus, wenn ihr das im jeweiligen Kontext für passend haltet !

Der Mathe-MOOC steht in den Startlöchern!

Veröffentlicht: Montag, Oktober 7, 2013 in MatheMOOC
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Ja, bald ist es soweit: Unser Mathe-MOOC „Mathematisch denken!“ startet in einer Woche, genauer: am 15. Oktober 2013! Und das tollste: Jeder kann mitmachen!

Wer noch nicht angemeldet ist, sollte das natürlich schleunigst nachholen! 🙂 Ihr könnt euch auf unserer Kursseite kostenlos anmelden.

Natürlich lernt es sich mit Freunden besser als alleine: Sobald ihr angemeldet seid, bekommt ihr einen persönlichen Link, den ihr an Freunde und Bekannte weitergeben und in euren sozialen Netzen teilen könnt. Und wenn sich Freunde von euch anmelden, bekommt ihr sogar weitere Vorschau-Inhalte freigeschaltet. 🙂

Ein wenig später stoßen dann noch unsere Studierenden von der PH Heidelberg mit hinzu. Und dann geht’s rund: Wir werden gemeinsam mathematisch moocen! 🙂 … vielleicht sei an dieser Stelle noch eine Sache erwähnt: Wir werden kein typischer xMOOC sein mit Videos und Quizzen usw., sondern im Mittelpunkt stehen Aufgaben, die von den Teilnehmer_Innen gemeinsam bearbeitet und diskutiert werden. Und so werden wir Online-MOOC-Teilnehmer_Innen mit unseren Studierenden über die gemeinsame Online-Diskussion zu mathematischen Fragestellungen zusammenbringen.

In diesem Sinne: Wir freuen uns sehr auf den Start und sind irre gespannt. Ihr auch?

Apropos… was ist das eigentlich? Mathematisch denken? Wir haben Mannheimer_Innen befragt!

–> Hier geht’s zur Anmeldung!

Die Bildungspläne vieler deutscher Bundesländer behandeln das Fach Informatik eher stiefmütterlich. Jörg Ostertag hingegen ist ein vehementer Verfechter informatischer Bildung in den Schulen. In diesem Beitrag fragt er nach den bildungspolitischen Konsequenzen der NSA-Affäre. Zu seiner Person: Er studierte zunächst Lehramt und Medienpädagogik und schloss dann mit dem Master of Arts (Bildungswissenschaften) vorerst ab. Er beschäftigt sich seit seiner Masterarbeit mit der Kompetenz von Lehrkräften zum Einsatz von Informationstechnologien im Unterricht und den Potenzialen offener Bildungsressourcen.

Wer als technisch versierter Mensch, der entweder als „digital native“ aufgewachsen ist oder sich als „digital immigrant“ in die IT-Nutzung eingefunden hat, die Diskussion um die Enthüllungen der Snowden-Affäre in den Medien verfolgt, dem fallen zwei Dinge auf:

  1. Die nahezu totale Abhängigkeit von amerikanischer und chinesischer Hard- und Software: Diese Abhängigkeit beginnt beim Betriebssystem des eigenen Computers sowie dessen Hardware und endet beim Smartphone, das in seiner allerneuesten Generation auch noch mit einem Fingerabdruck-Scanner ausgestattet ist. Alternative Angebote aus dem eigenen Land oder Europa sind praktisch nicht zu haben oder werden nicht von der breiten Masse genutzt (z.B. Linux).
  2. Die erschreckende Naivität, mit der man nun nach der Politik ruft: Plötzlich verstehen alle, dass Daten im Internet nicht sicher sind und wir von (einem) befreundeten Staat(en) ausspioniert werden. Dabei scheinen wir schnell zu vergessen, dass wir alle durch die Nutzung einschlägiger Anbieter wie z.B. Facebook, Google oder Apple der weiteren Nutzung und Speicherung unserer Daten bereits zugestimmt haben… Aber wer liest schon die AGBs? Kurzum, man fordert die Politik auf, etwas für die Sicherheit unserer Daten zu tun – in einem weltumspannenden Netz, das nahezu anarchische Strukturen aufweist, kein leichtes Unterfangen für einen einzelnen Staat.

In diesen oder ähnlichen Forderungen kommt meiner Meinung nach das zu geringe informatische Hintergrundwissen vieler Internet-Nutzer zum Vorschein. Für sie scheint das Internet etwas zu sein, das auf dem eigenen Bildschirm stattfindet und das man mit Hilfe politischer Mittel regulieren könnte. Für mich ein Beleg von vielen, dass die Vermittlung von Medienkompetenz, und dazu gehört auch ein Mindestmaß an informatischem Grundwissen, in der Schule zu kurz kommt. Wir leben in einer Welt der digitalen Immigranten, der digitalen Nativen und der digitalen Naiven!

Diese im ersten Punkt genannte Abhängigkeit will die Bundesregierung nun mit einer europäischen IT-Initiative beenden. Dazu soll eine nationale und europäische Strategie in der Informations- und Kommunikationstechnik vorgestellt werden.

Dieses Vorgehen erinnert stark an den sogenannten Sputnikschock. Als die Sowjetunion 1957 den ersten künstlichen Satelliten ins All schoss, erstarrte der Westen vor dem technischen Vorsprung des Ostblocks. Die Ursachen für das westliche Versagen wurden in Amerika im Bildungssystem gefunden, das daraufhin massiv unterstützt und umstrukturiert wurde. Dabei wurde viel Geld investiert, u.a. in die Lehrerbildung, und die bestehenden Lehrpläne wurden überarbeitet.

Ein vergleichbares Vorgehen wäre nun auch für die IT-Initiative der Bundesregierung wünschenswert. Nicht nur die Wirtschaft sollte umstrukturiert werden, sondern auch Teile des Bildungssystems. Dabei müssen zwei Aspekte berücksichtigt werden. Zum einen im Sinne der Medienbildung, die einen verantwortungsvollen und reflektierten Umgang auch mit digitalen Medien vermitteln soll, zum anderen im Sinne einer informatorischen Bildung, die das notwendige, technische Hintergrundwissen vermittelt. Die Grenze zwischen beiden Aspekten ist jedoch aufgrund der Medienkonvergenz fließend.

Ähnlich wie es nach dem Sputnikschock in den USA geschah, müsste erstens dafür gesorgt werden, dass Lehrkräfte den Computer als selbstverständliches Lern- und Lehrinstrument akzeptieren und im Unterricht sicher damit umgehen können. Dazu müssten Lehrkräfte aller Unterrichtsfächer in der Lage sein, Materialien für das Unterrichten mit dem Computer bereitzustellen. Dafür bieten sich zum Beispiel offene Bildungsressourcen (OER) an, die kostenlos verbreitet und verändert werden dürfen. Hiervon könnte vor allem die sogenannte bildungsferne Schicht profitieren. Zweitens muss die Informatik als Schulfach bestehen bleiben oder (wieder) eingeführt werden, denn hier wird der IT-Nachwuchs von morgen ausgebildet oder entdeckt seine Fähigkeiten. Im Zusammenspiel von Medienbildung und informatischer Grundbildung kann so die Schule die benötigten IT-Fachleute hervorbringen. Diese Gedanken führen zu den folgenden Fragen:

Kommt Medienbildung und informatische Bildung in unseren Schulen zu kurz? Müssen angehende Lehrkräfte im Studium besser auf den Einsatz digitaler Medien im Unterricht vorbereitet werden? Müssten Bildungspläne im Zuge der IT-Initiative an den benötigten IT-Fachkräftebedarf angepasst werden?

Was meint ihr?

Der Mathe-MOOC: Produktion und Wettbewerb!

Veröffentlicht: Sonntag, Juli 28, 2013 in Announcements
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Am 15. Oktober 2013 ist es soweit: Unser Mathe-MOOC Mathematisch denken! startet. Michael Gieding, Lutz Berger, Martin Lindner und ich arbeiten schon auf Hochtouren: Die Produktion hat begonnen! Wer den Produktionsprozess mitverfolgen möchte, der kann unserem Mathe-MOOC-Macher-Blog folgen und dort kommentieren. Außerdem haben wir eine Facebook-Seite zum Liken gebaut, den Twitteraccount @mathemooc eingerichtet und auch bereits das entsprechende Hashtag #mathemooc gebucht.

Ihr könnt euch übrigens zum MOOC schon heute kostenlos anmelden, und zwar auf unserer Kursseite bei iversity.

Darüber hinaus haben wir einen Wettbewerb gestartet: Ihr könnt eine Eintrittskarte für die Bayreuther Festspiele gewinnen! Alle Infos zum Wettbewerb findet ihr in dem folgenden kleinen Video. Also, macht mit und reicht euren Beitrag bis zum 8. August bei der Mathe-MOOC-Blogseite ein: Gewinne den Fliegenden Holländer!

Gastbeitrag: Spielerisch lernen?

Veröffentlicht: Mittwoch, Juli 17, 2013 in Gastbeitrag, Spiel

ODER:  Was EDV- Trainings mit Sport und Spiel zu tun haben

Seit einiger Zeit experimentieren wir in der Playgroup Heidelberg mit spielerischen Elementen im Hörsaal und schreiben darüber. Und über diese Texte kommen wir mit Menschen in Kontakt, die ähnlichesselbst schon einmal ausprobiert oder sogar intensive Erfahrungen damit gemacht machen. Zur zweite Gruppe gehört Leila Concetti, die in ihren EDV-Schulungen Spiele eingesetzt hat. Leila gibt uns einen Einblick in ihre Erlebnisse mit Spielen… Leila, voilá!

Ich war elf Jahre lang selbstständig als EDV-Trainerin (Office-Palette und Co.) tätig. Auf die Idee, meine EDV-Trainings anders zu gestalten, kam ich über den Sport. Ich war 17 Jahre lang ehrenamtliche, aber lizenzierte Trainerin für Gerätturnen für Jungs.

Für die Trainerlizenz war ich an einigen Wochenenden beim Landessportbund zur Ausbildung. Dort sind mir deren Trainingsmethoden aufgefallen. Die Lehr-/Trainings-Einheiten dort begannen häufig mit Spielen. Ich erinnere mich z. B. an eine Runde Handball. Wir haben einfach nur Handball gespielt. So lange, bis auch der/die Letzte aufgehört hat. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass ich mich seinerzeit sehr darüber geärgert hatte, dass ich nicht länger durchgehalten hatte. Ich hatte mich total überschätzt. Nach dieser Einheit hatten wir theoretischen Unterricht. Dort ging es dann um Kondition, Aufgabe, Selbsteinschätzung.

Und so spielten wir uns durch Themen wie Erfolg, Enttäuschung, Motivation, Zusammenhalt und selbstverständlich auch durch Konditions-, Technik-, Aufwärm- und Aufbautrainings u. v. m. und arbeiteten die Erkenntnisse aus den Spieleinheiten später in der Theorie auf. Dann wussten wir, wovon die Rede war und wie sich das alles anfühlt.

Die Grundaussage von den Trainern des Landessportbundes: man könne wirklich alles über das Spiel vermitteln, ansprechen, aktivieren – und viel mehr dabei erreichen, als wenn man darüber referiere. Das kann ich nur bestätigen. Die Ausbildung ist schon Jahrzehnte her, aber die Emotionen spüre ich noch immer als wäre das gestern.

Unterricht mit Bewegung (und umgekehrt: Bewegung mit Denksportaufgaben) ist ein Stilmittel, das ich bis heute innig liebe. Und wenn ich ein verschmitztes Funkeln in den Augen sehe und der Mund breit grinst, dann weiß ich, es war gut.

Nun muss man im EDV-Training kein Wettrennen machen, man kann stattdessen eine ähnliche Atmosphäre schaffen, wenn man z. B. die Zeit für eine Aufgabe bei jedem Durchgang weiter beschränkt. Man hat also immer weniger Zeit, eine Aufgabe zu erledigen und setzt die Teilnehmer einem gewissen „Stress“ aus. Das ist aber kein negativer Stress, das kann man sehen –  die Gesichter der Teilnehmer fangen an zu funkeln und man merkt, sie haben Spaß. Und erstaunlicherweise ist man auf diese Weise auch noch ein klein wenig schneller durch die Aufgabe durch. Ist doch einfach faszinierend, nicht wahr? Wenn ich solche Ergebnisse erzielen konnte, war auch ich sehr glücklich. Man stelle sich vor: Glückliche Schüler, glückliche Dozenten – wo ist das schon so? 😉

Sich Spiele auszudenken war ein Akt für sich, die anderen zum Mitmachen zu bewegen manchmal aber auch. Man fand das schon ganz schön schräg, sich für ein EDV-Training anzumelden und dann darin zu spielen. Aber ich habe das nicht aufgegeben. Das war sehr mutig von mir, denn als selbstständige EDV-Trainerin ist man bei Nichtgefallen schnell weg und wird schlicht einfach nicht mehr engagiert. Was mich aber antrieb war die Überzeugung, dass das der bessere Weg zum Lernen und Lehren ist.

Hier ein paar Spiel-Beispiele:

  1. Ich habe mehrere Gruppen gebildet und einen Wettbewerb gestartet: „Welche Gruppe ist als erste fertig?“.
  2. Es gab einige Aufgaben(so eine Art Serie). Davon wussten die Teilnehmer erst einmal nichts. Es gab also erst die eine Aufgabe, dann eine zweite, die schneller zu lösen war. Die dritte hatte noch weniger Zeit für die Lösung bekommen usw. Irgendwann steigen alle aus. Aber die Stimmung ist witzig. Alle kichern.
  3. Die Teilnehmer stellen sich in der Reihe am Lehrer-PC an. Thema ist das Wiederholen der letzten Stunde (z. B. eine Anwesenheitsliste in Excel erstellt). Jeder, der dran ist, macht den einen nächsten Schritt. Nicht mehr.
  4. Zu allen Abschiedsveranstaltungen habe ich Essen und Trinken von den Teilnehmern erbeten. Ich selbst habe ein Brettspiel vorbereitet. Ein einfacher Ausdruck auf Papier von einem Spielfeld (eine einfache Tabelle), die auf dem Tisch ausgebreitet ein möglichst langes Brettspiel mit Anfang und Ziel ergab. Mit Würfel und hübschen Spielfiguren aus kleineren Geschenken oder Naschsachen, die man im Ziel aufessen kann. Auf dem Weg zum Ziel sind Aufgaben zu bewältigen. So enthielten einzelne Felder Anweisungen wie z. B. „der Vordermann muss eine Frage zum Thema XY stellen. Wenn diese sein rechter Sitznachbar beantworten kann, darf der Spieler zwei Felder vorrücken – sonst zwei Felder zurück.“ ODER „Finden Sie eine Frage zu Excel, die keiner beantworten kann (Sie müssten die Antwort allerdings kennen). Gelingt Ihnen das, dürfen Sie zwei Felder vorrücken.“ Natürlich könnte ich Fragen vorgeben, wie: „Worauf sollte man beim Kauf im Internet achten?“ – „Wie geht die Formel für Zinsberechnung in Excel?“ – „Wie sind die Tastaturkürzel für XY?“. Aber ich spiele ja schließlich mit und komme ja auch noch zu Wort. Richtig wichtig ist mir, dass die Teilnehmer sich Fragen ausdenken, deren Antwort sie selbst kennen sollten.

Ich habe in meinem Unterricht wirklich viele Menschen aus ganz unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen gehabt: Senioren, Kinder, Jugendliche, nur Jungs, nur Frauen,  Migranten, Arbeitslose, Manager, Banker. Manche hatte ich über einen längeren Zeitraum betreuen dürfen, manche nur in offenen Seminaren für ein oder zwei Tage. Mit allen habe ich ‚gespielt‘. Die Gesichter verändern sich bei allen.

Meine Selbstständigkeit habe ich nach der Trennung von meinem Mann aufgegeben. Heute arbeite ich in einem großen Konzern in der Arbeitssicherheit. In meinen Bereich fällt das Daten-Management, die Prozessoptimierung und die Schulungen. Aber ich unterrichte nicht mehr selbst. Ich organisiere die Schulungen nur.

Mir fällt auf, dass den dortigen Trainern ein lebhaftes Lehrkonzept regelrecht Angst macht. Ich habe den Eindruck, als ob sie vor allem Angst vor Gesichtsverlust haben, wenn sie sich auf ‚Spielen‘ einließen. Sie scheinen zu denken, dass Professionalität und Spiel nicht vereinbar seien. Das finde ich wirklich sehr schade aus unterschiedlichen Gründen. Aber vor allem, weil ich immer davon überzeugt war, qualitativ sehr hochwertigen Unterricht zu machen.

Ich würde mich freuen, wenn eine rege Diskussion darüber entstünde, ob das Spiel Professionalität ausschließe. Bin gespannt auf Eure Meinung. Wie denkt ihr darüber?

Das Josef-Hutzl-Verfahren

Veröffentlicht: Sonntag, Juni 23, 2013 in Arithmetik, Mathematics

Neulich erhielt ich eine Mail von Josef Hutzl. Josef ist Fernfahrer und ist zufällig auf meine Youtube-Videos gestoßen, auch auf eines, in dem ich mal quadriert habe. Er schreibt:

Das brachte mich auf die Idee, bei Ihnen etwas zu hinterfragen. […] Da ich während stundenlanger Nachtfahrten gerne Kopfrechne, habe ich mir einen Rechenablauf zur Kontrolle  beim Quadrieren entwickelt. […] Meine Bitte, sehen Sie sich meine Kopfrechenhilfe unten an, und sagen Bullshit oder nicht.

Das alleine finde ich schon mal extrem cool. Man sieht, dass hier Videos aus Mathe-Vorlesungen wesentlich breiter aufgenommen werden als man das vermutet. Auch wenn die Nutzung durch „Nicht-Akademiker“ insbesondere im Kontext von MOOCs kritisch hinterfragt wird (hier sind doch die meisten Teilnehmer Akademiker), zeigt das Beispiel Josef Hutzl, dass der Zugriff auf Youtube-Videos vielleicht niederschwelliger ist und dass diese daher breiter wirken können als dies in MOOCs der Fall ist: Schließlich kann sich die Videos ja  jeder „einfach so“ ansehen, ohne sich in einen ganzen Kurs oder ähnliches einschreiben zu müssen. Die Kommentare und Rückmeldungen, die ich auf Youtube erhalte, zeugen jedenfalls davon, dass diese auch von „Nicht-Studenten“ und „Nicht-Akademikern“ angesehen werden. Eine Einschätzung über eine Größenordnung kann ich nicht geben, aber das ist ja letztlich auch egal. Hauptsache, diejenigen Menschen haben Zugriff auf solche Materialien, die sich für Mathe interessieren. Und nicht nur das, sondern es lässt sich auch vermuten, dass überall in der Gesellschaft kleinere und größere Mathe-Genies, Mathe-Freaks und Mathe-Liebhaber rumlaufen, die zwar keinen Zugang zur formalen Hochschulbildung haben, in denen aber ein Potenzial schlummert, dass nun mit einer „Demokratisierung der Bildung“ zum einen mehr ausgeschöpft, zum anderen ein Stück weit öffentlicher wird. Hierzu soll auch dieser Blogartikel einen Beitrag leisten.

Nun aber zurück zum Rechentrick von Josef. Wie kann man beispielsweise 44*44 ausrechnen? Er schreibt:

Mir helfen dabei, wie ich es nenne, Eckzahlen. 1,2,3,4,5,6,7,8,9  ihr 10, 100 und tausendfaches mit sich selbst mal genommen z.B.: 50 mal 50 ist 2500,  folglich ist 2500 eine Eckzahl. In diesem Fall eine „obere Eckzahl“ oE, die „untere Eckzahl“ uE wäre in diesem Fall 1600 (40 mal 40). Zwischen 40 und 50 liegen 9 weitere ganze Zahlen (Grundzahlen).
Ich addiere die Grundzahl der oE mit sich selbst, im Beispiel (50 + 50 oder 2 mal 50). Diese multipliziere ich nun mit dem Abstand der betreffenden Grundzahl zur Grundzahl der oE, hier 50 minus 44 ist 6 (Abstand), und subtrahiere die Summe von oE, addiere nun das Quadrat des Abstands dazu habe als Ergebnis 1936 oder 44 mal 44.
Also zusammengefasst:    2500 – 600 + 36 = 1936  = 44

Wir vollziehen es nochmal an einem anderen Beispiel nach. Nehmen wir mal die Aufgabe 37*37. Somit wäre die obere Eckzahl (nach den Ausführungen von Josef) 40*40=1600. Der Abstand von 37 und 40 ist 3. Wir rechnen 2*40*3 = 240. Schließlich rechnen wir 1600 – 240 + 9, und das ergibt 1369. Und das ist tatsächlich 37*37.

Hier ist eine Aufgabe für meine Studenten:

  1. Vollziehen Sie das Verfahren von Josef Hutzl an weiteren Beispielen nach.
  2. Beweisen Sie es.
  3. Entwickeln Sie auf dieser Basis einen noch einfacheren Rechentrick unter Verwendung der unteren Eckzahl.

Letztlich beruht dieser Rechentrick auf… (nein, ich verrate es hier nicht, um den Studierenden den Beweis nicht zu einfach zu machen.) Nichtsdestotrotz: Ich schlage vor, dass Verfahren ab sofort Josef-Hutzl-Verfahren zu nennen. Einfach weil ich’s toll finde, dass Josef ein mathematisches Verfahren entwickelt hat. Das ist eine großartige Leistung!

Hörsaalspiel: Ring the Bell

Veröffentlicht: Dienstag, Mai 7, 2013 in FlippedClassroom

Nach der Durchführung des Spiels Reihenrotation hab ich heute mal wieder ein neues Hörsaalspiel ausprobiert. Teufelchen777 gab ihm den Namen „Ring the Bell“ 🙂

Das Spiel: Die Studierenden teilen sich in Vierergruppen auf und geben sich einen Gruppennamen. Die Gruppennamen schreibt man als Punktestandsliste an die Tafel. Das macht man natürlich nur, wenn es nicht zu viele Gruppen sind, es erhöht aber den Fun-Effekt, wenn sich Gruppen „Null-Durchblick“ oder „Der Chaotentrupp“ nennen. Dann zeigt man eine Aufgabe per Folie, die die Gruppen lösen müssen. In meinem Fall heute habe ich Relationen an die Wand geworfen mit der Aufgabe, jeweils zu bewerten, ob diese Relationen reflexiv, irreflexiv, symmetrisch, asymmetrisch, antisymmetrisch oder transitiv sind. Sobald eine Gruppe fertig ist, muss ein Gruppenmitglied nach vorne rennen und auf eine Klingel hauen (auch eine Idee von Teufelchen777). Damit müssen alle mit der Bearbeitung stoppen. Es geht also auf Zeit.

ringthebell

Damits einigermaßen gerecht zu geht, nimmt man zwei Glocken, von denen man eine vorne und eine hinten im Raum platziert: Die hinteren Reihen müssen nach vorne rennen, die vorderen Reihen nach hinten. Da kommt Freude auf. 🙂 Sobald die Glocke ertönt, werden die Lösungen verglichen: Für jede richtige Lösung gibt es einen Pluspunkt, für jede falsche einen Minuspunkt, unbearbeitete Teilaufgaben geben 0 Punkte.

Was soll das, wird sich der ein oder andere fragen? Hier ein paar Aspekte, die eine Überlegung wert sind:

  • Die Studierenden sind durch die Videos im Flipped Classroom vorbereitet. D. h. wir haben 90 Minuten zur freien methodischen Gestaltung. Ein Hörsaalspiel, das beispielsweise 20 Minuten dauert, bildet damit eine Phase (von mehreren) in der Plenumsveranstaltung, die gezielt eingesetzt werden kann. Heute beispielsweise haben wir erst Fragen zu Relationen und ihren Eigenschaften besprochen, und nachdem es keine Fragen mehr gab, haben wir das Spiel gespielt – mit dem Ziel, dass jeder tatsächlich nochmal für sich überprüfen kann, ob er es wirklich verstanden hat.
  • In der Regel haben die Studierenden die Eigenschaften von Relationen trotz Durcharbeiten der Videos mit Hilfe des Worksheets zu Hause nicht wirklich tief und mit allen Konsequenzen begriffen. Wichtig ist also, dass sie sich mit verschiedenen Beispielen von Relationen auseinander setzen und auch die Möglichkeit erhalten, zu hinterfragen und zu begründen, warum denn nun eine bestimmte Eigenschaft gilt (oder nicht gilt). Nach jeder Runde wurden ausführliche Begründungen für die Lösungen gegeben, und es wurden auch zahlreiche Rückfragen gestellt. Warum ist die Relation nicht symmetrisch? Weshalb ist sie transitiv?Schließlich will man ja sicher gehen, dass man nicht doch einen Pluspunkt statt eines Minuspunkts verdient hat! (Wer Interesse hat an meinen Folien mit den Aufgaben, die gibt es online.)
  • Jeder ist involviert. Keiner hat rumgesessen, sich gelangweilt, mit dem Handy gespielt, sich mit dem Nachbarn über irgendwas anderes unterhalten. Also kein Verhalten, das man sonst so in Vorlesungen findet. Die Situation hat nicht erlaubt, dass sich jemand hängen lässt. Alle müssen für ihre Gruppe mitdenken, und schließlich geht es auf Zeit und es kommt auf Schnelligkeit an!
  • Bei einem Gespräch heute darüber wurde mir die Frage gestellt, ob es denn sinnvoll ist, dass man solche extrinsischen Motivatoren einsetzt. Die Studierenden sollen schließlich von der Sache begeistert sein. Dazu gibt es mehrere Dinge zu sagen: Zum einen ist das ein frommer Wunsch. Nicht jeder ist von der Sache von Anfang begeistert. Daher gibt es ja auch die „bösen“ extrinsischen Anreize wie Prüfungen usw. Das heißt aber: Ist es nicht sinnvoll, wenn man jemanden durch einen angenehmen extrinsischen Anreiz (Spaß durch Spiel) dazu bringt, sich mit einer Sache auseinander zu setzen, um dadurch erst die Chance zu haben, sich für die Sache zu begeistern? Ich jedenfalls will die Chance nicht ungenutzt lassen, dass die Studierenden durch Hörsaalspiele merken, dass die Beschäftigung mit Mathe Spaß machen kann, und dass sie vielleicht den Spaß dann auch aus der Mathematik selbst ziehen: An mathematischen Problemen knobeln macht nämlich außerhalb eines Spiels genauso viel Spaß wie im Spiel. Die Beschäftigung mit Mathematik soll positiv-emotional besetzt sein. Und ich glaube, Spiele können hier ein guter Katalysator auf dem Weg zu Freude an Mathematik sein. Und (auch das ist nur eine starke Vermutung) wer bereits Freude an Mathematik hat, der verliert sie nicht dadurch, dass Mathe in ein Spiel verpackt wird.

Ich werde weiter probieren und gemeinsam mit der Mitgliedern der Playgroup (Teufelchen777 & Luci) Hörsaalspiele sammeln, entwickeln und testen. In der Kombination mit dem Flipped Classroom passt das wirklich ganz gut. Und, ganz ehrlich: Auch mir macht es einen Riesenspaß!

Es MOOCt! Mit der Bitte um eure Stimme!

Veröffentlicht: Donnerstag, Mai 2, 2013 in Announcements

Seit gestern läuft die Abstimmung unter allen MOOC-Einreichungen beim MOOC Production Fellowship, der von iversity und dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft durchgeführt wird. Was ist ein MOOC? Die Abkürzung MOOC bedeutet Massive Open Online Course und bezeichnet Kurse, die online durchgeführt werden, in der Regel kostenlos und unter Beteiligung sehr vieler Teilnehmerinnen und Teilnehmer (daher „massive“). In dem Wettbewerb, für den gestern die Voting-Runde eingeläutet wurde, werden zehn Mal 25.000 EUR für die Durchführung eines MOOCs spendiert. Tja, was soll ich sagen: Wir wollen das unbedingt machen!

Wer sind wir? Michael Gieding (also known as *m.g.*), Lutz Berger (also known as @lutzland), Martin Lindner (also known as @martinlindner) und ich.

Worum geht’s? Um Mathematik natürlich. Genauer: Mathematische Denk- und Arbeitsweisen am Beispiel von Geometrie und Arithmetik. Daher ist es auch ein Doppel-MOOC: zwei in einem sozusagen!

Wie genau stellen wir uns das vor?  Okay, das wird in dem Video hier erklärt:

Genauere Infos gibt es noch auf unserer Bewerbungsseite.

Findet ihr sowas gut? Möchtet ihr das unterstützen? Dann votet für uns! 🙂

Das geht folgendermaßen:

  1. Geht auf unsere Bewerbungsseite
  2. Klickt auf „Abstimmen“
  3. Meldet euch an (per Facebook oder registriert euch mit eurer E-Mail)

(Die Anmeldung ist notwendig, damit kein Schindluder mit den Abstimmungen gemacht wird, ist klar.)

Ja, und darüber hinaus bietet jetzt schon die Möglichkeit zur Interaktion mit uns (ganz wie in dem MOOC): Ihr könnt uns auf unserer Wiki-Seite Fragen dazu stellen und mit uns über das Konzept diskutieren. Vielleicht habt ihr weitere Anregungen / Ideen / Vorschläge, die wir unbedingt aufgreifen müssen? Her damit!

Und wenn ihr restlos überzeugt seid, dass wir den Zuschlag erhalten sollten, dann könntet ihr unsere Bewerbungsseite auch twittern, liken, auf google+ sharen, in  facebook teilen, whatever! Wir freuen uns über jede Unterstützung!

Okay, aber zunächst mal – nicht vergessen – voten! 🙂

Herzlichen Dank schon mal! 

Hat ein ehemaliger Offizier der Bundeswehr, der jetzt Mathematik studiert, einen speziellen Blick auf sein Studium? Stephan Goldammer schaut durch den universitären Pulverdampf. Schon seit längerer Zeit beschäftigt er sich mit dem Thema eLearning, und zur Ergänzung für sein vor Ort stattfindendes Studium nutzt er Vorlesungsvideos aus dem Internet. Vor einiger Zeit hat Stephan eine Mail mit zahlreichen Ideen an mich gesendet. Ich habe ihn gefragt, ob er diese Ideen nicht als Gastblogbeitrag verfassen möchte. Und was soll ich sagen: Oberleutnant Goldammer erstattet Lagebericht! Jetzt heißt es: Still gestanden! 🙂

Wir schreiben das Jahr 2063. Dank eLearning sind schlechte Vorlesungen ausgestorben und nur noch im Museum zu finden. Historiker berichten über vergangene Zeiten, über monotone, langatmige Vorträge, unverständliche Folien und verworrene Präsentationen, aber man kann es nicht glauben. So habt ihr früher studiert? Wie habt ihr das ausgehalten?

Zurück in die Gegenwart. Erste Abschnitte auf der eBaustelle sind fertig, aber ein nüchterner Blick reicht, um zu sehen: Bis zum Paradies ist es noch weit. Viele Fragen sind offen. Kann man durch eLearning aus einer schlechten eine gute Vorlesung machen? Kann technisch intelligent konstruiertes eLearning zu einer fortwährenden, automatischen Verbesserung der Lehre führen? Kann eLearning die Basis für lebenslanges Lernen schaffen, und wie kann die Politik hilfreiche Unterstützung leisten? Einige Antworten auf diese Fragen mögen vielleicht als Spinnerei erscheinen, könnten aber schon bald Wirklichkeit werden. Die helle Seite der dunklen Seite, ein bisher gänzlich unbekannter Prof. Spinnagel, hat mich gebeten, mal auf den synaptischen Putz zu hauen und allen Spinnereien freien Lauf zu lassen.

eVorlesung: Wahrscheinlich wird es an der Hochschule vorerst auf das Modell „Klassische Vorlesung plus Videoaufzeichnung“ hinauslaufen. Lehrmethoden wie die umgedrehte Vorlesung werden dem Großteil der Dozenten wohl noch zu exotisch sein. Der Dozenten-Tanker hat gern ruhiges Fahrwasser und bewegt sich nicht so schnell. Vorteil der (rein passiven) Videoaufzeichnung: Der Vortragende braucht erst einmal gar nichts zu ändern (psychologisch geschickt), bekommt aber über Jahre hinweg beweiskräftiges Feedback (Kollegen, Studenten, Externe, YouTuber, Klick-Rankings) und kann dann nach und nach sich und seine Vorlesung anpassen. „Der X aus Y erklärt das aber viel besser!“, dürfte wohl keinen Dozenten kalt lassen. Fehlerhafte Begriffsverwendungen oder schwammige, ungenaue Definitionen im jeweiligen Fachgebiet fallen viel leichter auf (und würden möglicherweise als lange mitgeschleppter „Ballast“ abgeworfen). Steter Tropfen höhlt den Stein, so gesehen kann ein sanft vor sich hin plätschernder Strom aus Online-Kommentaren hilfreicher sein als der gute alte pädagogisch-ballistische Ratschlag. Hält ein Dozent auch dieses Feedback in homöopathischen Dosen nicht aus, bleibt ihm natürlich der psychologische Notausgang: Stecker raus.

FAQ: Die folgende Idee stelle ich mir vor wie einen Feedback-Regelkreis, der sich selbst steuert und verbessert. Für jedes Vorlesungsvideo wird ein Frage-Button angeboten. Dadurch wird man direkt mit einem Chatpartner (Tutor) verbunden, der die Frage live beantwortet (eine Art 24-h-Hotline). Der Tutor formuliert anhand aller eingehenden Fragen eine FAQ-Liste. Diese wird unter dem Video zur Verfügung gestellt, wodurch die häufigsten, immer wiederkehrenden Fragen direkt beantwortet werden. Am Ende des Semesters schaut der Professor über die FAQs und versucht diese offenen Fragen in die Vorlesung mit einzubauen und zu beantworten. Im Idealfall würde nach endlich vielen Durchgängen die (aus Studentensicht) perfekte Vorlesung herauskommen.

Feedbackstatistik: Die nächste Idee ermöglicht eine einfache und effiziente Auswertung einer Videoaufzeichnung. Für jedes Vorlesungsvideo werden zwei Buttons angeboten: ein roter und ein grüner oder wahlweise auch die Tasten Plus und Minus. Sobald der Student die Erklärungen des Dozenten nicht versteht, kann er den roten Button drücken. Versteht er etwas besonders gut (Aha-Effekt), kann er Grün drücken. Im Unterschied zu einer normalen Bewertung, wie sie bei YouTube oder Facebook üblich ist („Gefällt mir“), kann man diesen Button über die gesamte Laufzeit des Videos mehrmals drücken. Die Daten werden statistisch ausgewertet. Ein roter Peak würde auf eine besonders unverständliche Erklärung hinweisen. Der Dozent kann sich dann überlegen, warum viele Studenten an dieser Stelle des Videos seine Erklärungen nicht verstehen. Das Diagramm zum Auswerten wäre sehr einfach aufgebaut: Die Laufzeit des Videos wird verbunden mit unterschiedlich hohen grünen und roten Balken, fertig. Erlaubt man auch Studenten eine Einsicht in das Diagramm, wäre es möglich zu sehen, dass man nicht der Einzige ist, der genau an dieser Stelle „nichts versteht“.

Verdrehung: Im Kontext von Online-Vorlesungen entscheidet nicht mehr der Dozent, ob er gut erklären kann, sondern der Student. Prof. X aus Dortmund kann gut Mengenlehre vermitteln, ist aber schlecht im Erklären von Logik. Bei Logik ist Prof. Y aus Hamburg gut im Erklären, der hat aber wiederum in Algebra seine Schwächen. So kann sich jeder Student seinen Online-Vorlesungsbaukasten zusammenstellen. Vielleicht bildet sich auch eine „Hall of Fame“ der besten Videos. Die Prüfungen bleiben natürlich gleich (schwer), wie gehabt. Die fachliche Kompetenz des Dozenten steht außer Frage, aber ob jemand erklären kann, kann letztlich nur der Zuhörer feststellen. Leider ist der Schüler heute (noch) an den „kann-nicht-gut-erklären“ Lehrer gefesselt. Lehrer wechseln impossible => Frust beim Schüler. Wenn alle Vorlesungen und Unterrichtseinheiten im Netz stehen, kann der Schüler direkt evaluieren, wer es am besten erklärt. Ein Student kann nicht fünf Jahre warten, bis die üblichen, bürokratischen Evaluierungsprozesse minimale Veränderungen bewirken (wenn überhaupt). Diesen Aspekt von eLearning könnte man Flipped-Evaluation nennen. Flipped deshalb, weil der Schalter umgelegt wird von (fast) unwirksamer zu wirksamer Evaluation. Sich wirksam zu fühlen ist ein wichtiger Faktor der Motivation. Lassen wir doch den Deckel entscheiden, welcher Topf ihn begeistert. Fünf Jahre didaktische Kohlsuppe schmeckt nicht jedem.

Zeit: Ein neues Axiom in der Bildung. Schüler und Lehrer müssen sich nicht zeitgleich treffen. Man könnte noch weiter gehen: Der Lehrer muss im Prinzip gar nicht mehr am Leben sein. Eine Vorlesung von Hilbert, Einstein oder Turing wäre auch heute interessant. Wenn Verstorbene eine bestimmte Sache besonders gut erklären können, werden auch alte Vorlesungen nützlich sein. (Einschub: Wo gibt es eigentlich die älteste auf Video aufgezeichnete Vorlesung?) Durch eLearning muss der Schüler seine Konzentrationsfähigkeit nicht mehr an den Rhythmus des Lehrers oder an den Mittelwert der Klasse anpassen. Jeder lernt in seiner eigenen Geschwindigkeit und seiner eigenen Zeit. Die zeitliche Entkoppelung von Lehrer und Schüler verhindert, dass Schüler nach zehn Minuten Mathematikunterricht gedanklich aussteigen, weil sie den Erklärungen nicht mehr folgen können. Online kann ich den Informationskuchen in kleine Häppchen zerteilen, bei der Vorlesung im Hörsaal fliegt mir eine Informationstorte ins Gesicht. eLearning ist, was verhindert, dass alles auf einmal passiert.

Methode: Welches die geeignete Lehrmethode ist, werden die Zuseher (online) wahrscheinlich schneller entscheiden als man mit Studien und Forschung hinterherkommt. Vorschlag: Eine einzelne Standard-Grundlagenvorlesung („Vollständige Induktion“) wird mehrfach aufgezeichnet. Sie bleibt dabei fachlich und inhaltlich gleich, aber die Lehrmethode wechselt. Über die Klickzahlen oder Kommentare könnte man herausfinden, welche Methode besonders gerne angenommen wird. YouTube als Online-Labor der Pädagogik. Dieser Ansatz könnte nutzbringende Erkenntnisse liefern, bei Teilen der pädagogischen Forschung habe ich dagegen den Eindruck, sie gibt Antworten auf Fragen, die keiner mehr stellt. Ich würde mir wünschen, dass man die didaktische Widerlegungshoheit (im Popperschen Sinne) in die Hände der Schüler und Studenten legt. War es gut oder schlecht erklärt, falsifiziert der Student, nicht der Dozent. Oh, rüttle ich hier gerade an einem Grundpfeiler? 🙂 Mit eLearning bekommt der Student wirksame Mittel, um seine Lebenszeit nicht in aus didaktischer Perspektive mittelalterlich anmutenden Vorlesungen absitzen zu müssen. Wer schlecht erklärt, wird weggeklickt, wer gut erklärt, wird angeklickt. Wenn wir in der Universitätsbibliothek ein unverständliches Buch aus dem Regal ziehen, legen wir es zurück und nehmen ein besseres. Bald wird es mit Vorlesungen ähnlich sein.

Prüfung: Ein weiterer Forschungsansatz wäre, vor einer Prüfung die Studenten zu fragen, welche Dozenten und Lehrmethoden sie (zusätzlich zur normalen Vorlesung) im Netz genutzt haben. Im Anschluss analysiert man, wie die Angaben mit den Prüfungsnoten korrelieren. Auf die Ergebnisse wäre ich sehr gespannt.

Wunschvorlesung: Einmal pro Jahr dürfen Studenten (oder Externe) eine Wunschvorlesung wählen. Man stellt (sehr viele) Themen zur Auswahl und lässt abstimmen. Man könnte hier auch neue methodische Konzepte ausprobieren und danach das Feedback auswerten.

Mathematikvorlesung: Ein unkonventioneller Einstieg in die (wissenschaftliche) Mathematik könnte „Die formelfreie Mathematikvorlesung“ sein. Thema: „Warum ist die Mathematik axiomatisch aufgebaut?“ Es geht also um die interessante Frage: „Wo ist der Urknall der Mathematik … und was war davor?“ oder „Wie gebe ich einem besorgten Studenten die Sicherheit, dass das Fundament der Mathematik tragfähig ist?“ – „Machen wir seit 3000 Jahren so, ist bisher immer gut gegangen!“ zählt nicht. 🙂 Im Schulunterricht ist man immer „mittendrin“ in der Mathematik (Bruchrechnen, Addition, Differentialrechnung), aber es wird nicht erklärt, wo der Anfang ist, an dem alles „losgeht“. Und die noch spannendere Frage, was vor dem Anfang war, wird leider auch nicht beantwortet. Ist das Gebäude der Mathematik auf Sand oder auf Beton gebaut? Sind die Axiome fest genug, um Einsturzsicherheit zu gewährleisten? Solche Gedanken könnte man in diese Vorlesung hineinbringen. Hier kann ich mir auch eine interessante Diskussion im aktiven Plenum vorstellen.

Edelstein: Online-Vorlesungen werden zu einer öffentlichen Visitenkarte des Dozenten. Sicher für viele ein Ansporn, sich zu verbessern. Die Vorlesung als ein Edelstein, der ständiger Pflege und Verbesserung bedarf, um in den Augen der anderen zu funkeln. Zeige mir deine Online-Vorlesung und ich sage dir, wer du bist. Eine wissenschaftliche eVorlesung bleibt dabei der wichtige, feste Anker im großen Online-Meer aus Halb- und Viertelwissen.

Wikipedia: Wissenschaftler an der Hochschule könnten durch Wikipedia ihre Erkenntnisse (leicht zugänglich) an die Allgemeinheit weitergeben. Den Elfenbeinturm hochzulaufen, um persönlich das Wissen abzuholen, ist für viele Menschen zeitlich nicht möglich. Vorschlag: An einem Tag im Jahr wird an der Hochschule der „Wikipedia-Tag“ veranstaltet. An diesem Tag werden alle wissenschaftlichen Mitarbeiter und Professoren gebeten, freiwillig ihr Wissen in die Wikipedia zu tippen. Wenn genügend Hochschulen mitmachen, würde das Niveau von Wikipedia enorm steigen und alle können daran teilhaben. Gehen wir noch einen Schritt weiter: Warum nach Weltspartag, Weltfrauentag & Co. nicht auch einen Weltwikipediatag einführen?

Grundeinkommen: Seit zwei Jahren setze ich mich mit der Thematik „Bedingungsloses Grundeinkommen“ auseinander. Für Studenten würde sich einiges ändern, da BAföG, Studienkredite, Büchergeld (und anderer bürokratischer Kleinkram) wegfallen und (für alle) durch ein lebenslanges (bescheidenes, aber menschenwürdiges) Grundeinkommen ersetzt werden würden. Das Grundeinkommen ist ein finanzieller Sockel, der (ohne Bürokratie, ohne Formulare) lebenslang nicht unterschritten werden kann. Es ist die unbefristete, unkündbare Stelle im Leben. Lebenslanges Lernen wäre dann nicht nur ein politisches Motto, sondern wirklich umsetzbar. Ohne existenzielle Ängste kann Lernen und Ideenteilen richtig Spaß machen. Finanzierbar ist das Grundeinkommen, weil es nicht obendrauf kommt, sondern in bereits bestehende Einkommen integriert wird.

Wer von der ganzen Spinnerei gestresst ist, entspannt sich hier oder hier.

Um es mit Douglas Adams zu sagen: „Dozenten haben mit 42 die Antwort, aber die Berechnung der Frage liegt bei den Studenten.“ Diese erhalten durch eLearning ein demokratisches Verfahren, entscheiden aber nicht über den fachlichen Inhalt (Algebra bleibt Algebra), sondern über das Erklärpotenzial. Aber funktioniert ein Konzept, in dem Studenten auf einmal Nein sagen können? Gärt es tief in der Dozentenseele, wenn die seit 30 Jahren gleich gehaltene Vorlesung (didaktisch auf dem Stand von vor 300 Jahren) online keiner mehr aushält, weil sie noch nie jemand ausgehalten hat?

Kommando von dunkelmunkel: „Rührt Euch und Wegtreten in den Kommentarbereich!“

Gastbeitrag: Alternative zu iTunes U und Co.

Veröffentlicht: Montag, März 25, 2013 in Gastbeitrag

Ein gern gesehener Gast in diesem Blog ist Boris Kraut, der schon zwei Gastbeiträge verfasst hat: einen zur Datenethik  und einen zu BYOD in der Schule. Hier kommt sein dritter Wurf, der sich sehr gut mit meinen eigenen aktuellen Überlegungen und Zweifeln zur Frage trifft, welche externen Server und Plattformen man eigentlich nutzen sollte… Boris, it’s your turn! …. ah, bevor es losgeht: Ihr alle seid natürlich auch herzlich eingeladen, einmal einen Gastbeitrag in meinem Blog zu veröffentlichen, z.B. wenn ihr keinen eigenen Blog besitzt… so, jetzt aber: Boris, leg los! 

Der aktuelle Frühjahrsputz bei Google und die damit verbundene Ankündigung, ihren RSS-Reader im Sommer einzustellen, haben für jede Menge Aufruhr gesorgt. Prinzipiell zeigt es aber nur, was eigentlich einleuchtend und allgemein bekannt sein sollte: Man kann sich auf externe Webdienste nicht verlassen. Die Erkenntnis ist nicht neu, aber jeder hat darauf vertraut, dass so etwas bei einem so großen und bekanntermaßen „nicht bösen“ Unternehmen passieren würde. Es führt uns vor Augen, wie abhängig wir geworden sind – von erwachsenen Bezahldiensten und von jungen, sympathischen Startup-Unternehmen gleichermaßen.

Speziell zum Thema Webdienste habe ich z.B. im letzten Jahr einen Vortrag darüber gehalten, dass wir uns solcher Gefahren bewusst sein müssen und dass vor allem der häufig verwendete Begriff des „Tool“ bzw. „Werkzeug“ nichts mit der Realität eines Webdienstes zu tun hat, ja diese Realität sogar (absichtlich) verschleiert und beschönigt. Dieser Vortrag fand im Rahmen der GML² 2012 – Von der Innovation zur Nachhaltigkeit an der FU Berlin statt, weshalb ich von den aktuellen Geschehnissen um iTunes U an der FU Berlin (siehe Berichte auf netzpolitik.orggolem.detaz.detagesspiegel.de oder den Blogpost von Anatol Stefanowitsch besonders geschockt war und dies auch per Mail kundtat. Haben die denn nichts gelernt?

Was ist das Problem?

Eigentlich ausgelöst wurde der Sturm der Entrüstung eigentlich durch die in einer Mail bekannt gewordene Bitte bzw. Aufforderung des Kanzlers der FU Berlin, dass von der Nutzung anderer externer Internet-Plattformen zur Verbreitung von aufgezeichneten Lehrveranstaltungen und audiovisuellen Materialien abzusehen sei. Diese Exklusivität führt in eine totale Abhängigkeit und ist natürlich nicht hinnehmbar. Einige weitere Punkte, die Anatol anführt:

Die Inhalte wären nicht barrierefrei (sie könnten weder auf freien Betriebssystemen [Anmerkung (krt): ohne Aufwand] genutzt werden, noch in andere Anwendungen importiert werden); sie wären nicht offen (Apple hätte eine unbefristete weltweite kommerzielle Lizenz, was z.B. die Verwendung von CC-BY-NC-lizenzierten Materialien unmöglich macht; zudem ist unklar, wie die eingestellten Materialien ihrerseits weiterverwendet werden könnten); sie würde Lehrende in ein Vertragsverhältnis mit Apple zwingen. Um nur ein paar offensichtliche Gründe zu nennen.

Der letzte Punkt würde übrigens nicht nur Lehrende betreffen, denn prinzipiell ist jedes Angebot, dass über iTunes U verfügbar ist, Werbung für Apple. Man kann nur hoffen, dass das nicht dazu führt, dass Apple damit so erfolgreich ist, dass irgendwann kein Weg mehr an iTunes U vorbeiführt. Das wäre dann auch die Gelegenheit, wo sicherlich einige daran denken würden, auch die internen Systeme umzustellen. Noch geht es natürlich nicht darum, sind es nur Dystopien, aber wer kann heute schon sagen, wohin die Reise geht. Was mit externen Diensten, die nicht unter der eigenen Kontrolle stehen, passieren kann, hat man ja unlängst erlebt.

Inzwischen rudert die FU Berlin zwar per Pressemitteilung zurück (siehe auch: netzpolitik.orgtageswebschau oder tageswebschau (Einzelbeitrag))…

Eine exklusive Nutzung der Plattform iTunes U zur Präsentation von Lehrveranstaltungen und audiovisuellen Materialien ist nicht vorgesehen. Die Plattform soll in Ergänzung zu den an der Freien Universität Berlin verwendeten E-Learning-Systemen und dem offiziellen Internetauftritt zum Einsatz kommen.

…, aber wirklich erledigt hat sich das Thema damit nicht, denn auch der optionale Einsatz birgt weiterhin Probleme. Es scheint als ob man mit der Pressemitteilung lediglich die Wogen glätten wollte, ohne von von der bisherigen Position abzuweichen: Es wurde zwar den Befürchtungen Rechnung getragen, die darin den Anfang vom Ende des internen Learning-Management-Systems der FU sahen, worum es aber (momentan?) explizit nicht geht, und es wurde klargestellt, dass es sich in der Exklusivnutzung nur um eine Bitte handelt. An der eingeschlagenen Richtung ändert sich allerdings nichts, wie auch Anatol konstatiert.

Trotz der ganzen Aufregung, scheint sich aber niemand die eigentliche Frage zu stellen: Warum setzen immer mehr Universitäten bei ihrer Öffnung für die Allgemeinheit auf geschlossene Systeme? Natürlich ist iTunes U dafür ein Paradebeispiel, aber es gibt zig andere Hersteller die ähnliche Dienste anbieten. Und um ehrlich zu sein: Videos auf Youtube (oder Vimeo), Einträge auf Wikiversity oder auch eigene Downloadportale an den Hochschulen sind zwar ganz nett, lösen aber nicht das Problem. Auch bei der Forderung nach Open Educational Resources (OER) bleibt die Frage nach der Auffindbarkeit, Ausfallsicherheit und Einfachheit oft ungestellt. Und so verwundert es nicht, dass man sich lieber ein zentralisiertes und geschlossenes System ins Boot holt, als die rechtlichen, organisatorischen und technischen Probleme endlich selbst anzugehen.

Lösungsvorschlag: OER-Tauschbörse

Vor einigen Semestern habe ich an der PH Karlsruhe ein Seminar zur Entwicklung von Webservices betreut. Konkret ging es – nach etwas Motivation durch den Dozenten Ulrich Kortenkamp – um einen Dienst, der die Erstellung, Auffindung und Bearbeitung von eigenen wie auch fremden Unterrichtsverlaufsplänen vereinfacht. Der schnelle Austausch von Unterrichtsphasen war genau so möglich wie der Zugriff auf für die Stunde benötigtes Material. Wie auf jeder „sozialen“ Plattform konnte man natürlich auch Bewertung und Kommentieren. Wie sooft fehlte es an Zeit und motivierten Mitarbeiten, um das Projekt wirklich voran zu bringen, aber auch nach dem Ende des Seminars, habe ich mich weiter damit beschäftigt. In einem ersten Schritt habe ich die Weboberfläche weggeschmissen und stattdessen alles zu einem schlanken „RESTful“ Webservice umgebaut. Um das User-Interface sollten sich Leute kümmern, die davon mehr Ahnung haben, Designer. Dabei wäre es egal gewesen, ob die Oberfläche als Webpage oder in Form einer nativen Anwendung umgesetzt worden wäre.

Doch auch diese Idee kam nicht über einen Prototypen hinaus. Die Erkenntnis setzte sich durch, dass die Leute sich schon für die Software entschieden haben, mit der sie solche Sachen erstellen. Ebenfalls haben sie sich (leider) auch schon auf ein Dateiformat festgelegt. Hier gibt es zwar überall noch Verbesserungsbedarf, aber die eigentlich ungelösten Frage sind doch: Wenn ich jemanden ermutige, Inhalte freizugeben, wo und wie soll er diese veröffentlichen? Und – nicht unabhängig davon – wie findet ein Interessierter diesen Inhalt dann auch?

Genau die gleichen Fragen sind auch im aktuellen Fall wichtig zu beantworten. Das interessante ist, dass die Verfügbarkeit und eine leichte Auffindbarkeit teilweise gegenläufige Ziele sein können: Einfache Auffindbarkeit spricht für einen zentralen Dienst, z.B. wie iTunes U, was aber gleichzeitig die Verfügbarkeit absenkt. Natürlich kann man sich mit entsprechenden viel Hard- und Software-Ressourcen absichern oder gar komplett in die Cloud ausweichen, aber das schützt den Nutzer ja nicht davor, dass die zentrale Stelle selbst das Interesse verliert oder andere Vorstellungen und Ziele verfolgt – siehe das Google Reader Beispiel aus der Einleitung. Aber „Cloud“ ist ein gutes Stichwort. Statt eine gekaufte Rechnerfarm hinter einem zentralen Einstiegspunkt zu nutzen, könnte man das Bild umdrehen: Eine Datenwolke aus gleichberechtigten Peers, die die Daten verteilt anbieten, und dazu zentrale Anlaufstellen, die einen Teil der Daten als ihren eigenen oder zumindest als nutzenswert prominent bewerben? Das Konzept ist nicht neu, es ist erprobt und funktioniert. Es nennt sich BitTorrent.

Datenspeicherung

Um das Problem nochmal zu verdeutlichen ein Beispiel: Wer auf YouTube eine Aufzeichnung seiner Vorlesung veröffentlicht, der muss damit rechnen, dass diese irgendwann nicht mehr verfügbar ist [Anm. cspannagel: Seufz! 😉 ]. Zwar ist es allein bei der Größe von Google/YouTube nicht sehr wahrscheinlich, dass das technische Gründe haben kann, aber die Sperrung aufgrund von – mal mehr, mal weniger ersichtlichen – Urheberrechtsverstößen oder aufgrund von Nutzerbeschwerden kann durchaus vorkommen. Vielleicht entscheidet Google auch einfach nur, dass dieser Inhalt nicht zu ihren AGB passt oder dass die dauerhafte Speicherung zu teuer wird. Aber was dann? Kein Problem, denkt man sich, denn es gibt ja nicht nur YouTube, also lade ich es einfach auf Vimeo und Co. hoch, vielleicht habe ich das auch schon per Cross-Posting getan. Aber damit haben wir das Problem nicht gelöst, sondern verschoben. Und außerdem hat so ein Wechsel einen großen Nachteil: die URL des Videos hat sich geändert. Wir brauchen die quasi-eindeutige Adressierbarkeit über den Speicherort hinaus, die also auch dann nicht kaputt geht, wenn die Original-Quelle weg bricht. Auch das leistet BitTorrent.

Wie würde das also konkret aussehen? Nun, eine Hochschule (um mal wieder mehr auf den Auslöser iTunes U einzugehen) legt ihre Aufzeichnungen und Materialien auf den eigenen Servern ab und veröffentlicht sie über BitTorrent. Sie garantiert, dass es eine Quelle gibt, die die Dateien komplett verfügbar hat, andere diese also auch komplett runterladen können. So viel nichts neues, das wäre auch mit FTP o.ä. ähnlich. Idealerweise werden jetzt von anderen Hochschulen und Universitäten diese Inhalte – nach sorgfältiger Prüfung – auf deren eigenen Servern gespiegelt, also dupliziert. Das passiert heute auch schon sehr häufig, aber der Unterschied ist, dass jeder, der diese Dateien über BitTorrent herunterlädt oder bereitstellt, automatisch als weitere Quelle genutzt wird. Das liegt daran, dass nicht direkt auf den Speicherort gelinkt wird, sondern auf eine Beschreibung der Datei selbst, die automatisch alle verfügbaren Quellen kennt.

Natürlich gibt es auch einige Probleme oder Nachteile. So sind z.B. von einmal veröffentlichten Dateien keine Aktualisierungen möglich. Hat sich bei der Erstveröffentlichung ein Fehler eingeschlichen, muss ein komplett neuer Torrent-Download erstellt werden, der die aktualisierte Fassung enthält. Man kann zwar auf den eigenen Servern die alte Fassung löschen, aber wenn andere Nutzer und Server noch die alte Version anbieten, werden für eine gewisse Zeit beide Versionen im Netz verteilt werden. In gewissem Maße lässt sich das ganze aber so weit eindämmen, dass das kein relevanter Kritikpunkt ist. Auch bei herkömmlichen Downloads lässt sich nicht erzwingen, dass jeder Nutzer automatisch die aktuellste Fassung nutzt. Ein Spezialfall von Updates ist natürlich die Löschung von Inhalten. Auch hier gilt: Man kann sie von den Rechnern unter der eigenen Verwaltung löschen, aber was andere tun, das lässt sich nicht vorhersagen oder gar erzwingen. Ein weiterer Punkt, den man ansprechen sollte ist ebenfalls kein Problem, sollte aber der Klarheit wegen angesprochen werden: Tauschbörsen jeglicher Art werden in den Medien häufig im Zusammenhang mit Urheberrechtsverstößen genannt, da macht BitTorrent keine Ausnahme. Doch da die Hochschulen selbst nur Eigenproduktionen oder geprüfte Fremdinhalte anbieten, besteht hier keine weitere Gefahr. Eine Analogie: Die Hochschulen betreiben ja auch eigene Websites, auch wenn es anderswo im Web sicherlich auch illegale Angebote gibt. Inzwischen wird BitTorrent sogar vermehrt von der Industrie oder auch schon von Universitäten genutzt, einige Beispiele (entnommen aus Wikipedia):

Eine schöne interaktive Visualisierung der Funktionsweise von BitTorrent findet sich auf mg8.org.

Auffindbarkeit

Um entsprechende Inhalte jedoch in so einer Datenwolke finden zu können, bräuchte man einen idealerweise zentralen und globalen Suchindex. Dieser müsste nicht nur als Linkliste fungieren, sondern auch Metadaten über die einzelnen Ressourcen haben: Autor (und/oder Institution), Alter, Medientyp, Zielgruppe, Fach, Lizenz usw. Auch Kommentare, Bewertung und die typischen „social“ Eigenschaften sind hier angesiedelt. Diese zentrale Führungsrolle hat in anderen Bereichen PirateBay eingenommen, wäre es also nicht an der Zeit, die Technik zum guten zu Nutzen und ein EduBay zu starten?

Ob mit oder ohne so eine Zentralstelle, besteht natürlich die Möglichkeit, dass die einzelnen Hochschulen für ihren eigenen Downloadbereich, einen entsprechenden Indexer-Dienst betreiben, was gerade am Anfang für einen schnellen Start sorgen könnte. Es sollte jedoch die Option geschaffen werden, die Metadaten des Indexers abgreifen und weiternutzen zu können. Damit wäre es dann kein Problem mehr, eine entsprechende Suchmaschine zu speisen oder – im Falle eines Ausfalls – den nahtlosen Weiterbetrieb zu sichern. Ein universelles Austauschformat für die Metadaten wäre hilfreich.

Fazit

Was wir brauchen ist ein Piratebay für OER, doch die Idee an sich ist nicht neu: Schon 2010 hat Stephen J. O’Connor ähnliches formuliert. Dabei hat BitTorrent auch einige Probleme, die hier nicht näher genannt wurden, es ist nur eine Möglichkeit – eine andere Idee wäre das an der Standford University entwickelte LOCKSS – Lots Of Copies Keeps Stuff Safe – die Ziele zu erreichen:

  • Jeder verteilt nur den Inhalt, den er vertreten kann.
  • Jeder kann jeden Inhalt ohne Anmeldung komplett herunterladen und diesen…
  • …unter dem selben Identifier weiterverteilen, auch wenn die Original-Quelle nicht mehr existiert.
  • Ein globaler Such-Index ist möglich und wünschenswert, auch mehrere sind möglich.

Was sind eure Erfahrungen? Ist das Problem vielleicht gar keins? Gibt es schon andere Lösungen, die ich übersehen habe? Was nutzt ihr persönlich, um Inhalt zu veröffentlichen? Was nutzen ggf. die Hochschulen und andere Institutionen im Bildungsbereich? Und wo sucht ihr nach OER-Inhalten? Ich würde mich auf eine lebhafte und erkenntnisreiche Diskussion freuen!